Reden ist silber

Das Editorial zum Spielzeitheft #17 von Ludwig Haugk

Texte entstehen am Gorki aus der Not, denn für das, was wir hier erzählen wollen, hält das Repertoire des Theaterkanons nicht genug Material bereit. Das »Neue« aber lässt sich oft nur auf seltsamen Umwegen finden. Vielleicht liegt darin einer der Gründe, dass die meisten der Autor*innen am Gorki gleichzeitig Schauspieler*innen, Performer*innen, Regisseur*innen, Theaterleiter*innen, Dramaturg*innen oder sonst was sind.

Die Künstlerin Esra Rotthoff, die mit ihren Bildern das Gorki und seine Menschen seit fünf Jahren nach vorne inszeniert hat, beschäftigt sich in diesem Heft mit Leuten, die am Gorki nach Sprache suchen. Texte verlangen Zeit, Zeit ist Organisation, Organisation arbeitet im Hintergrund. Das Gorki will ein Autor*innenhintergrund sein. Dafür, dass etwas wachsen kann (ein Baum, ein Text, ein Ereignis), braucht es eine Landschaft, einen Kontext, ein Haus. 

Esra Rotthoff interessierte in ihrem Blick auf die Autor*innen deren Haltung vor einem imaginierten Hintergrund. Die Hintergründe haben Risse, zeigen andere, die als Schicht hinter dem Palimpsest liegen. Es ist eben niemals nur eine Fläche, auf der eine Beschreibung von dem entsteht, was Zeitgenossen als Gegenwart bedrängt.

Yael Ronen z.B. ist Autorin und Regisseurin. Wie viele ihrer Stücke hat sie auch die Eröffnungspremiere Yes but No gemeinsam mit ihrer kongenialen Dramaturgin und Übersetzerin Irina Szodruch erarbeitet, aus Texten, die die Schauspieler*innen entwickelt haben (stellvertretend haben wir Orit Nahmias  porträtiert, die mit ihren Soloprogrammen und ihren brillanten, schonungslos selbstironischen Texten unverzichtbar zum Gorki- Sound gehört). 

Sasha Marianna Salzmann, Hausautorin am Gorki, war Gründerin des legendären Studio Я, ihr Roman Außer sich wird im Oktober von Sebastian Nübling auf die Bühne gebracht. Marta Górnicka erzeugt mit ihren Libretti, die sie zu chorischen Kompositionen verdichtet, eine im Theater bisher nicht gekannte Intensität. Ihre neue Arbeit Grundgesetz wird am dritten Oktober das Festival War or Peace eröffnen, das am Gorki in Koproduktion mit der Kulturstiftung des Bundes und der Bundeszentrale für politische Bildung über 100 Jahre Krieg im Frieden nachdenkt. 

In einer Literaturwerkstatt unter dieser Überschrift haben vier Autor*innen ein Jahr lang an Texten gearbeitet. Sivan Ben Yishai, Mehdi Moradpour, Ebru Nihan Celkan und Anastasiia Kosodii stellen ihre Stücke Ende Oktober im Studio in szenischen Lesungen vor. Die Verschränkung von Theaterpraxis und Schreiben ist auch für den Regisseur und Theaterautor Falk Richter selbstverständlich, so wie für Necati Öziri, der als Dramaturg und Studioleiter im Gorki gearbeitet hat, als Autor mit Get deutsch or die tryin’ erfolgreich die Gorkibühne rockt und jetzt bei den Berliner Festspielen interdisziplinäre Theaterforschung betreibt. 

Suna Gürler ist als Schauspielerin in Sibylle Bergs Stücken ein gefeierter Star am Gorki, hat am Haus lange als Spielleiterin mit nicht-professionellen Schauspieler*innen gearbeitet und stellt mit You Are Not the Hero of This Story

nun ihre zweite Regiearbeit vor, die sie mit den Schauspieler*innen und dem Autor Lucien Haug entwickelt. Nora Abdel-Maksoud ist Schauspielerin und inzwischen extrem erfolgreiche Autor-Regisseurin, die ihre Stücke konsequent selbst schreibt und mit The Sequel im November ihre zweite bitterböse Komödie im Studio herausbringt. Die Porträtreihe ist alles andere als vollständig, sondern eine fragmentarische Galerie, die auf viele mehr verweist.

Es fehlen: das schreibende Ensemble, das mit seinen Texten den spezifischen Charakter des Gorki entscheidend geprägt hat; die sensationelle Weltformuliererin Sibylle Berg; die Theaterkolumnistin, Schriftstellerin, Performerin und politische  Stimme Mely Kiyak, ohne die wir uns nicht denken können; Ayham Majid Agha, der als Schauspieler, Filmemacher, Regisseur und Theaterverdichter dem Gorki das preisgekrönte Stück Skelett eines Elefanten und der Hamletmaschine von Müller die entscheidenden Assoziationsräume ins heute hinein geschenkt hat; der Dichter, Philosoph, Kurator und coole Typ Max Czollek; der Romancier und Sprachdenker Deniz Utlu; Olga Grjasnowa, deren Romane Der Russe ist einer der Birken liebt und Die juristische Unschärfe einer Ehe zu dem Erfolgreichsten gehören, was das Gorki an neuen Erzählungen auf die Bühne gebracht hat. 

Es fehlen das Zentrum für Politische Schönheit und die Spracherfinder von Talking Straight. Es fehlen Krzysztof Minkowski, Arsinée Khanjian, Mirko Borscht und Hakan Savaş Mican. Sie alle und noch viele mehr sind hier nicht mit Bildern vertreten, aber sie machen den Text am Gorki. Den Text der neuen Erzählung von der alten Stadt Berlin, von der Synchronisation der Fluchtwege, von Sexualität in Zeiten der nicht endenden Kriege, von einem nahen Osten in Neukölln und einer wegen Personalmangel geschlossenen Verkehrsschule im Irrgarten der Diskurse. Wenn Schweigen Gold ist, bleiben wir lieber silbern. 

Willkommen in der neuen Spielzeit!

Ludwig Haugk
Chefdramaturg