Zum 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern
Vor 100 Jahren, im April 1915, wurde mit der systematischen Deportation und Vernichtung der Armenier im osmanischen Reich begonnen. Das Deutsche Reich war an der ideologischen Vorbereitung, der logistischen Planung und der strukturellen Auswertung beteiligt. Doch trotz der Mitverantwortung spielt der Völkermord im öffentlichen Bewusstsein in Deutschland bis heute kaum eine Rolle. Wie erinnert, wie erzählt man von Verbrechen, die vor 100 Jahren begangen wurden? Die Dimension der Deportation der armenischen, syrianischen und griechisch-orthodoxen Christen kann weder in Statistiken noch in Fotos von den Gräueltaten erfasst werden. Deshalb gilt es, 100 Jahre danach nicht eines fernen historischen Ereignisses zu gedenken, sondern die Strukturen, die es möglich machten, offenzulegen und damit den Bezug zu unserer von Konflikten beherrschten Gegenwart herzustellen. Es gilt heute, die Opfer beim Namen zu nennen und zu beklagen, aber auch die Geschichten vom Weiterleben zu erzählen. Wir wollen nicht darüber streiten, wie es genannt wird, sondern berichten was passiert ist, und welche Lehren daraus zu ziehen sind.
Mit Es schneit im April wird sich das Gorki gemeinsam mit Gästen aus aller Welt 40 Tage lang thematisch dem Völkermord am armenischen Volk widmen. Erinnern und Überleben sind Formen von Widerstand, von diesem Widerstand, von Leid und Leidenschaft wollen wir erzählen.
Dabei werden die künstlerischen Formen des Umgangs mit dem Thema höchst unterschiedlich sein. So wird beispielsweise das Schicksal von Aurora Mardiganian in drei unterschiedlichen Weisen präsentiert: Aurora Mardiganian flüchtete 14jährig vor dem Völkermord in die USA, wo sie ihre Lebensgeschichte und das Elend ihres Volkes 1918 in dem Buch Ravished Armenia veröffentlichte. Kurz darauf wurde das Buch in Hollywood verfilmt – mit ihr in der Hauptrolle. Der Film war ein kommerzieller Erfolg, doch Aurora Mardiganian litt unter dem Trubel um ihre Person. Im Laufe der Wirren der folgenden Jahre ging der Film verloren, sodass heute nur noch etwa 22 Minuten davon erhalten sind. Die Fragmente sind in Restauration und werden von Fred Kelemen als Eröffnung der Filmreihe am 7. März gezeigt. Die armenische Schauspielerin Arsinée Khanjian aus Toronto wird aus dem vollständig überlieferten Originalskript eine Performance für die große Bühne erarbeiten, während der armenische Filmregisseur Atom Egoyan in seiner Videoinstallation vor dem Gorki den Text Ravished Armenia von sieben Models sprechen lässt und so thematisiert, dass Aurora Mardiganian nach ihrem Zusammenbruch von sieben ähnlich aussehenden Auroras bei der Werbetour für den Film ersetzt wurde.
Im Zentrum von Es schneit im April aber stehen zwei Theaterarbeiten auf der großen Bühne: Franz Werfels Musa Dagh von Hans-Werner Kroesinger und das Musiktheater Komitas von Marc Sinan. Fred Kelemen kuratiert eine Filmreihe zum Thema. Über Ostern wird ein fünftägiges Erzählfest stattfinden, das unterschiedliche Stimmen und Geschichten der armenischen Diaspora im Gorki sammelt. So vielfältig die Biographien und Schicksale, so unterschiedlich auch die Erzählformen auf der Suche nach Geschichten neben der Geschichte, nach dem Leben und dessen Erinnerbarkeit.