»In dieser Stunde war vielleicht das Glück selbst auf der Suche nach seinen Glücklichen, die Glücklichen aber ruhten sich von den alltäglichen sozialen Sorgen aus, ohne sich ihrer Verwandtschaft mit dem Glück zu entsinnen.« (Tschewengur)
Eine neue Welt bringt eine neue Sprache hervor. Andrej Platonow war lebenslang auf der Suche nach dem anderen Klang. Den Rhythmus für diese Expedition gab ihm die Eisenbahn vor: 1899 als Arbeiterkind im südrussischen Woronesh geboren, musste er früh als Hilfsarbeiter im Lokomotivenwerk arbeiten. Die Revolution 1921 ließ ihn Ingenieur werden, einen Träumer der Maschinen und ihrer Möglichkeiten, der an der Revolutionsfront kämpfte und in den Steppenlandschaften des Bürgerkriegs dem Hunger, der Utopie, der Gewalt begegnete.
In dem Roman Tschewengur – Die Wanderung mit offenem Herzen, seinem Hauptwerk, fließen diese Elemente zusammen zu einem Sprachkunstwerk. Seine Perspektive ist die der Elendsten, der Hunger und Dürre preisgegebenen Bauern, der Landlosen und besitzlos Umherstreifenden, jener Menschen also ohne Sprache, Schrift und Geschichte. In ihre an der Schwelle zum Tod gebaute Welt bricht die Maschinisierung und Neuorganisation von unten durch die Revolution. Sie sollen »Subjekte« werden und eine neue Welt erschaffen, statt die alte zu erdulden. Von der jungen Partei entsandt machen sich zwei extrem unterschiedliche Antihelden auf, in den Weiten der Steppenlandschaft den Kommunismus zu suchen. Sie begegnen einer mythischen Welt aus skurrilen Gestalten, einer Welt, in der die Menschen Teil des Gefüges der Dinge sind und nicht länger Herrscher, in der die Syntax des Zusammenlebens neu gebaut wird. In dem Örtchen Tschewengur, das sie schließlich erreichen, scheint erreicht, wovon alle träumen: das Ende aller Widersprüche.
100 Jahre später wirkt die zu Zementplatten geronnene Utopie der sozialistischen Landschaften selbst wie eine bezwungene Natur, eine urbane Steppe, verlassen und überbaut. Eine Landschaft aus Beton und Vergessen, Brachenkraut und Künstlichkeit. In den Resten sozialistischer Urbanität siedelt die Gruppe Studio Platonow ihren ungewöhnlichen Tschewengur-Film an.
Weiterführende Materialien: GLOSSAR ZU TSCHEWENGUR
Eine Produktion des Maxim Gorki Theaters
Aufführungsrechte henschel Schauspiel, Übersetzungsrechte Suhrkamp Verlag
Foto: Esra Rotthoff
Filmstills: Chris Kondek
Premiere am 27/September 2021