»Ich habe eine Wut auf die Welt oder das System oder mich, weil ich alles verraten habe, woran ich nicht geglaubt habe, oder haben wir wirklich einmal daran geglaubt, die Welt zu retten? Die lagen doch nur dekorativ herum, die Bücher, die feministischen, marxistischen, queeren, die lagen herum, mit ihren Überschriften, über die wir nicht hinausgekommen sind, während wir lieber Serien geschaut haben.«
Eine Sprecher*in – »Ich bin in dem Alter, in dem sich Ärzte gegen meine Beatmung entscheiden, wenn auf der Nachbarliege ein aufstrebender Port-folio-Manager liegt.« – zieht schonungslos Bilanz ihres Lebens und dem einer ganzen Generation im Neoliberalismus.
»Ich hatte erwartet, dass mir in Erwartung des Todes das Unterbewusste faszinierende Bilder meines gelungenen Lebens zeigt. Und dass ich sie nur verdrängt hätte, die einzigartigen Momente voller Erfüllung, Liebe und Exotik. Aber was sich da einstellt, kann nur als unterdurchschnittlich be-zeichnet werden. Immobilien und Kühlschränke, triste Reisen und die Abwesenheit von Liebe.«
Sibylle Berg, die optimistische Pessimistin, wie sie sich selbst bezeichnet, zeigt abermals ihre Brillanz. Ihr gelingt ein aufrüttelndes, wütendes und starkes Stück voller Sprachintelligenz, Haltung und Humor.
»Hat uns – bitte schön – irgendjemand auf diese Kränkung vorbereitet? Dass wir plötzlich unwichtig werden? Unsichtbar, auch wenn wir uns an die Regeln halten? Die es für Frauen gibt.«
Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden, wieder in der Regie von Sebastian Nübling, ist der vierte und letzte Teil der Saga, die Sibylle Berg für uns geschrieben hat. Die Reise der vielstimmigen jungen Sprecher*in, die sie fulminant mit Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen begann und die sie auf der Suche nach dem Glück in einer unglücklichen Welt mit Und dann kam Mirna und Nach uns das All – Das innere Team kennt keine Pause begleitete, beendet sie scheinbar elegisch, mit einer polyphonen Sprecher*in, die auf das Leben zurückblickt. CUT. ACTION.
Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden ist nominiert für »Stücke 2021« der 46. Mülheimer Theatertage und ausgezeichnet als »Stück des Jahres« der Kritiker*innenumfrage 2020/21 von Theater Heute.
Fotos: Ute Langkafel
Zum weiteren Stream-Programm
»Die Produktion ist eine so anarchische wie unbarmherzige Rückschau auf ein Frauenleben unter den Gegebenheiten des Neoliberalismus: ein Highlight der Saison. (…) Im Unterschied zum Live-Erlebnis treten dieses Mal die Einzelleistungen der Spielerinnen noch plastischer hervor. Durch Nahaufnahmen und wechselnde Perspektiven setzt sich Katja Riemann als ältere Sterbende mit ihrer geballten Desillusionierung vom lodernden Feuer der Jungen ab. Svenja Liesaus schnoddriger Witz, die komischen Sprechkaskaden von Vidina Popov und Anastasia Gubareva wirken eine Spur individueller. (…) Das Streaming-Produktionsteam des Gorki hat ganze Arbeit geleistet – um das Medium Theater auch am Endgerät erlebbar zu machen.«
»Sebastian Nübling destilliert die Komik aus Sibylle Bergs traurig-böser Suada über ein miss(ge)lingendes Dasein und findet mit den Spieler*innen einfache und wirkmächtige Inszenierungsideen. Streamtauglich frontal auf der Vorderbühne inszeniert, transportiert sich auch über den Bildschirm der Spielwitz dieses ungebremsten komatösen Rants.«