Wessen Leben zählt? Demokratische Gesellschaften beruhen auf der Ausgrenzung, digitalen Kontrolle und Ausbeutung von als überflüssig angesehenen Existenzen. Jeden Tag werden wir Zeug*innen der brutalen Verweigerung des Status‘ »Lebewesen« gegenüber vielzähligen Gruppen von Lebewesen.
STILL LIFE ist ein Manifest für eine neue Gesellschaft, ein Aufruf zu einer neuen Welt der Verbindungen. Der Chor erschafft ein grenzüberschreitendes Lied, um die unsichtbaren Mechanismen der Gewalt, Ausgrenzung und Vernichtung des Lebens offen zu legen, die aus »Nie wieder« ein »Auschwitz kein Ende« machen. Der Chor arbeitet mit Techniken der Überzeichnung und Sprachverfremdung, er existiert zwischen Synchronisation, Sprache, Musik und Stille. Er lässt verschiedene Narrative aufeinanderprallen und kreiert einen digitalen, post-sprachlichen Song als monströse Antwort auf unsere Realität.
Am Ende laden acht Schauspieler*innen in der Gestalt eines multiplen Dionysos, Gott der Ekstase und unzerstörbaren Lebens, ein zu einer Vision eines Chores aller Lebewesen: der Menschen und Tiere, Lebenden und Toten, mit Stimmen von in Auschwitz Ermordeten, Rhythmen namibischer Stämme, und allen anderen...
Ausgangspunkt und Metapher für die Performance ist das beeindruckende Panorama des Museum für Naturkunde Berlin, die Biodiversitätswand. Leben und »Nicht-Leben« zugleich.
DAS THEATER IST EIN HAUS DER HOFFNUNG
Arno Widmann im Gespräch mit Marta Górnicka (Ausschnitt)
MG: Nun beginnt der Chor wieder zu atmen, doch er hat auch aufgehört, im wörtlichen Sinne zu sprechen. Er bewegt synchron die Lippen und schafft so eine neue Form des chorischen Theaters. Er agiert an der Grenze zwischen aufgenommenen und Live-Klängen, Gesprochenem, Musik und Stille. Als gäbe es keine Rückkehr zu dem, was war. In der Schlussszene SONG OF ALL BEINGS hören wir allerdings acht Live-Stimmen, die ein altes jüdisches Lied über ein Kalb singen, das in einen Schlachthof kommt. Mit einer neuen deutschen Übersetzung, welche eher dem Original entspricht. Doch wir können auch Joseph Schmidts Stimme erkennen, die »Heut’ ist der schönste Tag in meinem Leben« singt, Rhythmen namibischer Stämme, Kinder… Ein Chor aus Menschen und Tieren, Lebenden und Toten. Stimmen von Menschen, die im Holocaust ermordet wurden, Stimmen ausgestorbener Stämme aus Amazonien. Selbst das Leben, das getötet wurde, das Stillleben, spricht zu uns. Es ist eine Utopie. Eine künstlerische und eine soziale.
AW: Deutsche Kritiker*innen haben Ihre Holocaust-Sätze kritisiert.
MG: Ich habe den Eindruck, den Finger in die Wunden des deutschen Körpers gelegt zu haben. In diesem Stück gibt es einen Chor der Mütter, die den Holocaust überlebt haben. Sie sprechen vom Holocaust. Und von den Mechanismen, die ihn wieder und wieder hervorbringen. Diese Mütter sagen auch: Geschichte wiederholt sich, und nichts wiederholt sich so oft wie Auschwitz.
AW: Ist das nicht etwas Einmaliges?
MG: Der grundsätzliche Mechanismus der Vernichtung von Leben ist immer derselbe. »Auschwitz kein Ende«, wie Heiner Müller gesagt hat. Seit Jahren ist dies ein zentraler Punkt meiner Arbeit. »Nie wieder« kann immer zu »Auschwitz kein Ende« werden, aber offen gesagt hört niemand auf die Überlebenden. Das Hauptbild der Produktion zeigt die Biodiversitätswand des Berliner Naturkundemuseums. Ein grandioses Panorama. Das größte Stillleben der Welt. Man steht davor und weiß, all diese Lebewesen gehören zusammen. Aber dann merkt man: Es zeigt nicht nur das Leben, es zeigt auch den Tod. Eine Metapher, ein großer Sarkophag, der viele Formen des Lebens enthält. Durch ihn kann man die Geschichte der ausgestorbenen Arten und der Gewalt betrachten. Der Mechanismus der Auslöschung des Lebens ist unsichtbar, aber lebendig.
Das Interview in voller Länge
Uraufführung am 31/Juli 2021
Eine Produktion des Maxim Gorki Theaters. Still Life ist Teil des Projektes Chorus of Women Berlin, gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes und aus Mitteln des Landes Berlin, Senatsverwaltung für Kultur und Europa. Mit freundlicher Unterstützung des Museum für Naturkunde Berlin.
Foto: Esra Rotthoff
Bühnenfotos: Magda Hueckel
»In genau getakteter Choreografie rufen [die acht Performer*innen] uns zur Räson, wir sollen uns verändern, denn was dieser Chor sieht ist Kapitalismus, Rassismus, Kolonialismus, Ausbeutung, Patriarchat. Überall: Gewalt. Während er von all diesen Katastrophen erzählt, sprüht der Chor vor Spiel-Freude.«
»Einen Chor, zumal einen so hochdynamischer wie diesen, auf der Bühne zu sehen, wird zum Hoffnungszeichen.«
»Dieser Chor aus dem Ensemble des Gorki-Theaters agiert hochvirtuos und absolut präzise. Da vervielfältigen sich die einzelnen Stimmen zu einem machtvollen Trio oder einem Quartett, mal miteinander, mal gegeneinander, die Stimmen agieren wie Instrumente in einem sinfonischen Konzert. Gelegentlich überschlagen sie sich, wenn alle zugleich sprechen: eine wohlkalkulierte Kakophonie.«