Die Autorin und Regisseurin Marta Górnicka über ihr Stück STILL LIFE.
Ihr STILL LIFE ist kein Stillleben.
Der Chor ist immer in Bewegung. Er ist rastlos, laut und monströs: ein Bild unserer Zeit und unserer Situation. Das schrecklichste und schönste Stillleben zugleich. Wir haben während der Pandemie unter extremen Bedingungen geprobt. Nun beginnt der Chor wieder zu atmen, doch er hat auch aufgehört, im wörtlichen Sinne zu sprechen. Er bewegt synchron die Lippen und schafft so eine neue Form des chorischen Theaters. Er agiert an der Grenze zwischen aufgenommenen und Live-Klängen, Spoken Word, Musik und Stille. Als gäbe es keine Rückkehr zu dem, was war. In der Schlussszene von SONG OF ALL BEINGS hören wir allerdings acht Live-Stimmen, die ein altes jüdisches Lied über das Kalb singen, das zum Schlachthof geht. Mit einer neuen deutschen Übersetzung, welche eher dem Original entspricht. Doch wir können auch Joseph Schmidts Stimme erkennen, die »Heut’ ist der schönste Tag in meinem Leben« singt, namibischem Rythmus, Kinder… Ein Chor aus Menschen und Tieren, Lebenden und Toten. Stimmen von Menschen, die im Holocaust ermordet wurden, Stimmen ausgestorbener Stämme aus Amazonien. Selbst das Leben, das getötet wurde, das Stillleben, spricht zu uns. Es ist eine Utopie. Eine künstlerische und eine soziale. Daran arbeite ich.
Der Chor spricht mit großen Worten, in gestochenen Sätzen. Viele Zitate.
O ja, und wild durcheinander. Ich liebe Wort- und Gedankenspiele. Sprache ist für mich nie ein transparentes Werkzeug. In der Manifest-Szene hören wir Aufrufe zur Arbeit an der politischen Idee einer RE-INVENTED SOCIETY, einer neu erfundenen Gesellschaft aufrufen, die während der Pandemie entstanden ist; diese lasse ich mit Britney Spears’ »We can still be together« und der roboterhaften Phrase »Please donate« kollidieren. Wir leben in und mit diesem Dickicht der Ideen. Ich verwende sie, weil ich mit ihnen denke und weil wir alle das tun. Ich verwende sie, um andere abzuwehren, und andere, um mich vor manchen zu wehren. »Together, together« – darum geht es. Doch am Ende klingt »together« nicht mehr wie ein Chor aus Menschen, sondern wie eine Maschine. Eine Utopie ist immer gefährdet, in die Katastrophe umzukippen. Wir leben in Ungewissheiten. Das Theater ist der Ort, an dem wir das aushalten können.
Im Chor?
Mit dem psychologischen Theater, das das Individuum auseinandernimmt, erreiche ich nichts. Mein Theater ist der Raum und die Post-Sprache. Unsere Sprache ist abgenutzt, geklaut. Musik lässt Lachen zu und verwandelt Bedeutungen in Ironie oder Protest. Musikalische Werkzeuge können eine Waffe sein, bringen stets kleine Veränderungen mit sich. Alles spielt sich zwischen Stimme, Sprache und Stille ab.
Deutsche Kritiker*innen haben Ihre Holocaust-Sätze kritisiert.
Ich habe den Eindruck, den Finger in die Wunden des deutschen Körpers gelegt zu haben. In diesem Stück gibt es einen Chor der Mütter, die den Holocaust überlebt haben. Sie sprechen vom Holocaust. Und von den Mechanismen, der ihn wieder und wieder hervorbringen. Diese Mütter sagen auch: Geschichte wiederholt sich, und nichts wiederholt sich so oft wie Auschwitz.
Ist das nicht etwas Einmaliges?
Der grundsätzliche Mechanismus der Vernichtung von Leben ist immer derselbe. »Auschwitz kein Ende«, wie Heiner Müller gesagt hat. Seit Jahren ist dies ein zentraler Punkt meiner Arbeit. »Nie wieder« kann immer zu »Auschwitz kein Ende« werden, aber offen gesagt hört niemand auf die Überlebenden. Das Hauptbild der Produktion zeigt die Biodiversitätswand des Berliner Naturkundemuseums. Ein grandioses Panorama. Das größte Stillleben der Welt. Man steht davor und weiß, all diese Lebewesen gehören zusammen. Aber dann merkt man: Sie zeigt nicht nur das Leben. Sie zeigt auch den Tod. So schön das Bild ist, so schrecklich ist es auch. Ein westliches Theater des Todes, verkleidet als Leben. Dies ist eine Metapher, ein großer Sarkophag, der viele Formen des Lebens enthält. Durch ihn kann man die Geschichte der ausgestorbenen Arten, der Gewalt und der Völkermorde betrachten. Der Mechanismus der Auslöschung von Leben ist unsichtbar, aber lebendig.
Wie können Sie mit dieser Idee leben?
Vor der Wand steht ein multipler Dionysos auf der Bühne. Der Gott des unzerstörbaren Lebens. Ich verteidige das Leben mit jedem Atemzug. Solange wir zusammen atmen, solange leben wir. Verstehen Sie jetzt, warum der Chor so wichtig für mich ist? Er ist nicht nur eine Performance. Er ist eine Praxis.
Der Holocaust ist lebendig. Doch Sie haben Hoffnung?
Ich glaube an den Chor der Menge, an die Möglichkeit einer guten Zukunft. Menschen zusammenzubringen und gleichzeitig die Individualität einer jeden Person zur Geltung zu bringen, das ist immer sehr schwierig. Wenn wir das hin und wieder im Theater schaffen, warum dann nicht auch auf der ganzen Welt? Das Theater ist ein Haus der Hoffnung.
Interview: Arno Widmann
Foto: Esra Rotthoff per Zoom