Dževad Karahasan:
In meiner Leseerfahrung gab es nichts Vergleichbares, ich verfügte über keinerlei Mittel und Instrumente, das Gelesene zu analysieren, darüber nachzudenken, es zu deuten. Die Figuren in den gelesenen Erzählungen handeln, doch ihr Handeln scheint durch keine uns bekannten menschlichen Bedürfnisse, Wünsche und Motive veranlasst zu sein. Gewiss, es gibt eine Geschichte, aber ihr Anfang, ihre Mitte und ihr Ende stehen in keinem kausalen Zusammenhang; der Mittelteil geht so wenig als logische Folge aus dem Anfang hervor, wie das Ende vom Anfang oder der Mitte bestimmt wird. Das Gelesene lässt mir keine Ruhe, ich will die Texte immer wieder lesen, ich muss zu ihnen zurückkehren, bin aber nicht imstande, die Gründe dafür zu erraten. Sind die Erzählungen spannend konstruiert? Bringt die Lektüre ein ästhetisches Vergnügen? Erfüllt mich das Lesen mit Freude? Nichts dergleichen - trotzdem will ich sie immer wieder lesen und analysieren. Aber wie nur? Der Mann schreibt seine Texte, als ob er gar nichts erzählen, aber alles erklären will.
Und dann kam mir die Erleuchtung: Die Texte haben Ähnlichkeit mit dem Mythos, wie Claude Lévi-Strauss ihn versteht, sie wollen »reine Bedeutungen« bzw. »reinen Sinn« vermitteln. Das hat mich auf die Idee gebracht, die Bücher Platonows als »Mythourgie« (Mythos + Ergon, die Arbeit mit dem Mythos, die Wirkung eines Mythos) zu definieren und sie vom literarischen Erzählen im engeren Sinne abzugrenzen.
Ingo Schulze:
Die Lektüre ist ein Genuss ganz eigener Art. Bei Tschewengur brauche ich für eine Seite drei- bis viermal so lange wie sonst. Die Sätze sinken wie Blei in mich ein, ich möchte sie auswendig lernen, damit sie sich in meiner Vorstellung einnisten, ich möchte sie nicht wieder verlieren. Im Grunde ließe sich über jede einzelne Seite des Romans eine Abhandlung schreiben, eine Exegese, man könnte auch über jede Seite predigen. Dabei ist Tschewengur gar nicht schwer zu lesen. Die Konstruktion von Tschewengur ist ebenfalls relativ klar…
Dževad Karahasan:
Diese Konstruktion, die ganze Erzähltechnik Platonows bestärkt mich in meiner Überzeugung, dass er Mythograph ist. Im literarischen Erzählen gehorcht die Aufeinanderfolge der Begebenheiten, von denen berichtet wird, nicht der Chronologie, sondern dem inneren Zusammenhang. Platonow hingegen erzählt der Reihe nach, scheinbar ohne jede Absicht, eine kohärente Form (im Sinne der Fabel, des Sujets) erschaffen zu wollen, denn er erzählt eine »heilige Geschichte« – in ihr artikuliert sich die reine Notwendigkeit. Platonow braucht keine Zusammenhänge und Kausalitäten zu konstruieren, denn im Mythos ist alles unauflöslich miteinander verbinden. Sein Erzähler hat keinen fest definierten Standpunkt, er ist überall präsent und mit allem, was erwähnt wird, »verwandt«; diesem Erzähler ist das innere Wesen aller Dinge zugänglich, und alle Dinge haben bei ihm auch ein inneres Wesen. Dieser Erzähler ist weder der allwissende Erzähler der »alten Erzähltechnik« noch der »moderne allwissender Erzähler«, wie ihn Flaubert und Henry James verstanden haben; Letzterer kann von den Dingen nur so viel wissen, wie sein point of view ihm erlaubt. Der Platonowsche Erzähler hingegen ist mit den Dingen verwandt, er weilt gewissermaßen in ihnen …
Platonow verzichtet völlig auf die üblichen Mittel, mit denen Schriftsteller die sozialen, psychischen oder rationalen Beweggründe ihrer Protagonisten plausibel machen; seine Figuren werden durch keine uns Menschen nachvollziehbaren Gründe zum Handeln bewegt, in ihrem Handeln werden sie oft von Kräften geleitet, die uns verborgen bleiben. Warum bleibt Sachar Pawlowitsch im Dorf, nachdem alle Dorfbewohner weggegangen sind? Warum verlässt auch er das Dorf, nachdem der Einsiedler gestorben ist? Warum verlässt Sascha Dwanow Dorf und Haus, in denen er nach langer Zeit Sonja wiederbegegnet? Wieso findet Kopjonkin ihn immer wieder, ohne nach ihm zu suchen? Die einzige Antwort, die mir einfällt, hat Platonow selbst gegeben: mit seiner Bemerkung, dass Sascha Dwanow »schon ein klares Gefühl für diese neue Welt« besaß, »aber sie ließ sich nur machen, nicht erzählen«.
In Tschewengur, aber auch in anderen Werken Platonows, bleiben die Grenzen zwischen Mensch und Natur unklar. Sascha Dwanow erkennt sich im Wind wieder und tröstet sich damit, dass der Wind auch nachts arbeiten muss, während er, Sascha, nur tagsüber beschäftigt ist. Unklar und fließend sind auch die zeitlichen und räumlichen Verhältnisse, die Grenzen zwischen Realem und Erträumtem, Idealem und Materiellem – wie im Mythos. Der Mensch ist bei Platonow Teil einer hoch-integrierten mythischen Welt. Er sieht vor seinen Augen eine neue Welt entstehen, eine neue Sprache und einen neuen Menschen, und diesen Entstehungsprozess will er in seinem Werk schildern. […]
Die Anspielungen auf die »Neuanfänge der Welt« sind überaus zahlreich. Der Mythos, aus dem die Neue Welt und der Neue Mensch geboren werden oder entstehen sollen, verbindet alles Bestehende und macht alle Existenz zu einer wunderbaren Einheit, alles ist beseelt und einig im Streben nach der Neuen Welt. So sind in Tschewengur Nacht und nächtliche Frische »junge Mädchen und Buben«, Maschinen sind personalisiert und vermenschlicht (vor allem Lokomotiven, die große Liebe von Sachar Pawlowitsch), Tiere und Vögel »trauern um Rosa Luxemburg«, das Pferd »Proletarische Kraft« hat sehr lebendige Erinnerungen…
Ingo Schulze:
… mit fällt der Bastschuh ein, den Sachar Pawlowitsch zu Beginn des Romans im Dorf entdeckt: »Der Bastschuh war ohne die Menschen ebenfalls zum Leben erwacht und hatte sein Schicksal gefunden – ihm entwuchs das Reis einer Rotweide, sein übriger Körper aber faulte zu Staub und bot dem Würzelchen des werdenden Strauches Schatten.« Jeder Leser wird sofort bemerken, dass sich die Auffassung des Körpers bei Platonow stark von unserer heutigen unterscheidet; vielleicht ist es eher eine mittelalterliche Auffassung, eine im Bachtinschen Sinne »karnevaleske«. Für die Menschen (die Körper) ist das Alleinsein das Anormale, das Ungewöhnliche. Sie suchen und wärmen einander, sie schlafen eng nebeneinander und lieber auf der Erde als in einem Bett, sie löffeln aus denselben Schüsseln, wenn sie sich nicht von Kräutern und Gras ernähren. nähren. Mir schien es mitunter, als seien sie weder voneinander noch von der Vegetation oder den Dingen abgegrenzt. So entstehen menschliche Gefühle unmittelbar aus der Körperlichkeit, auch die Worte sind im kreatürlichen Sinne körperlich: »Der Greis schwieg zuerst – in jedem Übrigen entstand zuerst nicht der Gedanken, sondern ein gewisser Druck dunkler Wärme, die dann irgendwie in Worte ausströmte und dabei erkaltete.«
Eine Welt, Erschaffen aus Bodenloser Sprache, Gespräch über Tschewengur von Dzevad Karahasan und Ingo Schulze. In: Andrej Platonow: Tschewengur. Suhrkamp Verlag, 2018