Die neuzeitliche Geschichte der Gewalt ist voller Beispiele dafür, dass vermeintliche Feinde oft im Hintergrund mörderischen Gedankenaustausch pflegen. Um nur ein Beispiel zu nennen: Der skrupellose Umgang mit Schwarzen und Ureinwohnern beeindruckte die erste Generation liberaler Imperialisten in Deutschland zutiefst – Jahrzehnte bevor Hitler die Vereinigten Staaten für ihre entschieden rassistische Politik der Einwanderung und Einbürgerung bewunderte. Später nahmen sich die Nazis erneut Rassengesetze amerikanischer Südstaaten zum Vorbild und griffen damit auch eine Tradition deutscher Kolonialisten in Afrika wieder auf. So gesehen war Charlottesville in Virginia durchaus ein angemessener Schauplatz für die jüngst geschwungenen Hackenkreuzfahnen und gegrölten Blut-und-Boden-Lieder.
Vor dem Hintergrund dieser Geschichte kontinentübergreifender Umarmungen zwischen Rassisten erscheint der Erste Weltkrieg weder als ein Ringen zwischen Demokratie und Diktatur noch als gänzlich unerwartete Katastrophe. Bereits 1909 prophezeite der indische Schriftsteller Aurobindo Ghose als einer der ersten, dass das Todesurteil über die »prahlerische, aggressive, herrische Kultur Europas« bereits gefallen sei und seine »Vernichtung« bevorstehe. Und Liang Qichao war schon 1918 überzeugt, dass der Erste Weltkrieg als Brücke zwischen Europas imperialistischer Gewalt und seinen Bruderkriegen, zwischen dem 19. Jahrhundert und der Zukunft verstanden werden sollte. Die klugen Einschätzungen von Liang, Ghose, Du Bois, Gandhi und Tagore waren kein Ausweis orientalischer Weisheit oder afrikanischer Wahrsagerei. Sie alle erkannten als Angehörige unterworfener Völker ganz einfach, und lange bevor Arendt 1951 die Ursprünge und Elemente totalitärer Herrschaft veröffentlichte, dass der Friede in der westlichen Metropole viel zu sehr darauf gründete, den Krieg in die Kolonien auszulagern. Bevor die Europäer ab 1914 das Massensterben und die Verwüstung des Krieges am eigenen Leib erfuhren, war all das schon in weiten Teilen Asiens und Afrikas bekannt, wo Land und Rohstoffe mit Gewalt genommen, wirtschaftliche und kulturelle Strukturen systematisch zerstört und mit Hilfe neuester Verwaltungs- und Kriegstechniken ganze Bevölkerungen dezimiert wurden. 1914 erwies sich, dass das Gleichgewicht auf dem europäischen Kontinent zu lange vom Ungleichgewicht anderswo gezehrt hatte. Am Ende waren Afrika und Asien als abgelegene, vermeintlich beherrschbare Schauplätze europäischer Expansionskriege im 19. und 20. Jahrhundert nicht mehr weit genug entfernt. Die Völker Europas erlitten dieselbe Gewalt wie die Asiaten und Afrikaner zuvor. »Wenn Gewalt nicht mehr im Namen des Gesetzes, sonder nur noch im Namen der Macht ausgeübt wird«, warnte Arendt, »verwandelt sie sich in Zerstörung aus Prinzip und hört erst auf, wenn es nichts mehr zu zerstören gibt.«
Auszug aus Pankaj Mishras Wilde, Räuber, Lumpen: Wie Soldaten aus den Kolonien im Ersten Weltkrieg in Europa kämpften (Lettre International 120, S. 14)
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Festival: WAR OR PEACE - CROSSROADS OF HISTORY 1918 / 2018