ELEKTRIFIZIERUNG: Reicht die Energie, wenn alle Subjekte werden?


»Im Saal wurde der Versammlungsbeginn eingeläutet. »Gehen wir und reden ein bisschen mit«, sagte Gopner zu Dwanow. »Wir beide sind ja jetzt keine Objekte mehr, sondern Subjekte, verdammt noch mal, ich sag’s und kann die eigne Ehre nicht begreifen.«
Auf der Tagesordnung stand ein einziger Punkt – die neue ökonomische Politik. Gopner dachte sofort über sie nach, er mochte Politik und Ökonomie nicht, er glaubte, die Rechnerei sei bloß was für die Maschine, im Leben aber gebe es nur Unterschiedlichkeit und Einzahl. 
Dwanow saß zwischen Gopner und Fufajew, und vor ihm murmelte pausenlos ein unbekannter Mensch, der in seinem verschlossenen Verstand etwas dachte und die Worte nicht zurückhalten konnte. Wer durch die Revolution denken lernte, der dachte immer laut, und niemand beschwerte sich über ihn.
Die Parteileute glichen einander nicht – in jedem Gesicht war etwas Selbstgemachtes, als hätte sich der Mensch mit seinen einsamen Kräften selbst von irgendwoher zutage gefördert. Unter Tausenden war so ein Gesicht zu unterscheiden – ein offenes, von ständiger Anspannung verdüstertes und ein wenig misstrauisches Gesicht. Die Weißen hatten seinerzeit solche besonderen, selbstgemachten Menschen unfehlbar herausgefunden und mit derselben krankhaften Besessenheit vernichtet, mit der normale Kinder Krüppel und Tiere schlagen: erschrocken und mit gierigem Genuss.
Das Atemgas bildete unter der Saaldecke bereits eine Art trüben örtlichen Himmel. Das matte elektrische Licht pulsierte leicht, wahrscheinlich gab es im Kraftwerk keinen heilen Treibriemen für den Dynamo, und der alte ausgediente Riemen schlug mit der Naht gegen die Scheibe und veränderte die Spannung im Dynamo. Die Hälfte der Anwesenden begriff das. Je weiter die Revolution voranschritt, umso mehr Widerstand leisteten ihr die erschöpften Maschinen und Erzeugnisse – sie hatten schon ihre sämtlichen Fristen abgearbeitet und hielten sich nur noch durch die anspornende Meisterschaft der Schlosser und Maschinisten.
Der Dwanow unbekannte Genosse murmelte vernehmlich, den Kopf geneigt und ohne dem Redner zuzuhören.
Der Redner sprach jetzt mit kleinen einfachen Worten, in jedem Laut war die Bewegung des Sinns; aus der Rede des Sprechenden klang die unsichtbare Achtung vor dem Menschen und Angst vor seinem Gegenverstand, weshalb sich der Zuhörer ebenfalls klug vorkam.
Das elektrische Licht erlosch zu einem roten Flämmchen – dem Trägheitsgesetz folgend drehte sich der Dynamo noch im Kraftwerk. Alle blickten nach oben. Das Licht ging still aus.
»Da haben wir’s!«, sagte jemand im Dunkeln. In der Stille war zu hören, wie ein Leiterwagen laut übers Pflaster rumpelte und ein Kind im fernen Zimmer des Wächters weinte.
Das elektrische Licht ging wieder an; im Kraftwerk hatten sie sich daran gewöhnt, Störungen bei laufenden Maschinen zu beheben.
Sie setzten sich auf die Schwelle des Hauses. Ein Saalfenster stand wegen der Luft weit offen, und alle Worte von dort waren zu hören. Nur die Nacht sagte nichts, sie trug sorgsam ihre blühenden Sterne über die leeren und dunklen Plätze der Erde. Gegenüber dem Stadtsowjet war der Pferdestall der Feuerwache, doch der Turm war vor zwei Jahren abgebrannt. Der diensthabende Feuerwehrmann ging jetzt übers Dach des Stadtsowjets und beobachtete von dort die Stadt. Ihm war langweilig, darum sang er Lieder und polterte mit den Stiefeln über das Blech. Dwanow und Gopner hörten dann, wie der Feuerwehrmann verstummte – wahrscheinlich hatte die Rede aus dem Saal auch ihn erreicht.“

Andrej Platonow: Tschewengur. Suhrkamp Verlag, 2018.