»Die Roma-Gemeinschaft hat eine toxische Beziehung zu Carmen: Als eine unserer wenigen Ikonen, die die Jahrhunderte überdauert haben, erfüllt sie jedes Stereotyp, das jemals über uns Roma kursierte. Sie ist gewalttätig, rüpelhaft, ungezähmt, heißblütig, leidenschaftlich, diebisch, tanzt und singt sich als schwarzhaarige Femme fatale bar jeder Moral in die Betten der Männer. Und doch wird sie geliebt. Sie ist eine Widerstandsfigur, ein Symbol der Freiheit gegen die Konformität, eine Verweigerung der Opferrolle. Und letztlich das Porträt einer Frau, die ihrer Zeit voraus war.« Riah Knight
Spätestens seit der Uraufführung der Oper von Georges Bizet im Jahr 1875 ist die Titelheldin Carmen weltberühmt. Basierend auf der gleichnamigen Novelle von Prosper Mérimée schufen die Librettisten Henri Meilhac und Ludovic Halévy ein aufwühlendes tragisches Spiel um Leidenschaft, Liebe und Macht. Die begehrte und selbstbewusste Romni und Fabrikarbeiterin Carmen begegnet in Sevilla dem Soldaten Don José, dessen Faszination für sie obsessive Züge annimmt. Doch Carmen lässt nicht über sich verfügen. Als sich Don José in seiner männlichen Ehre verletzt fühlt, ermordet er sie. Die Oper löste 1875 einen Skandal aus. Nicht nur wegen ihrer realistischen Milieudarstellung mit Soldat*innen, Arbeiter*innen, Schmuggler*innen und Flamencotänzer*innen, die sich auf der bürgerlichen Bühne einfanden. Die Titelfigur selbst, insbesondere Carmens Freiheitsdrang, faszinierte und provozierte zugleich das Publikum, besonders, weil sie die patriarchale Ordnung störte. Letztendlich wurde Carmen aber wegen ihrer überragenden musikalischen Qualität und der mitreißenden Handlung zur meistgespielten Oper der Welt.
Nach Alles Schwindel setzt das Produktionsteam um Regisseur Christian Weise die Tradition der Musiktheaterabende fort und stellt das Genre der Opéracomique in den Vordergrund. Lustvoll werden Bilder und Vorstellungen hinterfragt, die durch Bizets Oper normativ verfestigt, und damit zu kulturellem Wissen erklärt wurden. Ein neues musikalisches Arrangement re-appropriiert die durch Bizet annektierten Elemente der Roma-Kultur und führt diese auf ihre Entstehungskontexte zurück. Carmen wird zu einem queer-intersektionalen und burlesken Stück Musiktheater.
Premiere 24/Januar
Foto: Esra Rotthoff