Marta Górnicka erfand vor zehn Jahren in Warschau das chorische Theater neu: als eine große, Theater und Gesellschaft umfassende, ästhetische und politische Utopie. Sie soll auch Corona trotzen.
Heute ist Freitag, der 27. November. Morgen wird es in Polen große Demonstrationen geben.
Ich freue mich darauf. Ich werde hingehen. Es wird eine mächtige Demonstration werden gegen die Kolonisierung und Nationalisierung der weiblichen Körper. Vor 102 Jahren hatten sich die Frauen in Polen das Wahlrecht erkämpft. Ist es nicht schrecklich, dass Frauen noch immer auf die Straße gehen müssen, um ihre Rechte zu verteidigen? Wir werden in der Pandemie auf die Straße gehen, um das Recht auf unseren Körper zu verteidigen. Wir sprechen keine höfliche Sprache mehr, wir gebrauchen Ausdrücke, die sehr deutlich sind: »Wir sind im Krieg«, »Verpisst euch«. Wir sorgen dafür, dass die Männer, die unser Land regieren, uns nicht mehr überhören können. Das ist großartig.
Sie blicken, was Polen angeht, voller Hoffnung in die Zukunft?
Heute denke ich an die revolutionären Frauen, die morgen auf der Straße sein werden. Blicke ich weiter in die Zukunft, kommt mir der Gedanke, dass sich womöglich gar nichts ändern wird. Kein schöner Gedanke. Aber er drängt sich auf angesichts der Geschichte und auch angesichts der Kräfteverhältnisse. Doch jetzt möchte ich zu dem Chor gehören, der morgen durch die Straßen Warschaus ziehen wird.
Still Life ist Ihr neuestes Projekt am Maxim Gorki Theater. Was haben Sie vor?
Es geht um die Schaffung einer neuen Gesellschaft. Sie soll alle einschließen, auch Tiere und Pflanzen, alles, was lebt. Eine radikal neue Welt der Beziehungen soll sichtbar werden. Das ist heute natürlich besonders schwierig. Corona trennt uns voneinander. Corona ist gegen die Gemeinschaft mit anderen Menschen, Corona ist gegen meine Kunst. Corona ist gegen den Chor.
Tiere und Pflanzen betrachten Sie als Bürger*innen dieser neuen Republik?
Das ist natürlich der Traum: eine Gemeinschaft aller Lebensformen.
Viren eingeschlossen?
Viren und Bakterien gehören dazu. Sie sind offensichtlich schlauer als wir. Es geht um ein Gedankenexperiment. Wie erweitern wir die Teilnahme? Vielleicht werden nicht alle dazugehören, aber wir werden immer mit ihnen verbunden sein. Ich meine das alles wirklich so, wie ich es sage, aber natürlich spiele ich auch mit diesen Erklärungen. Wir sind gerade jetzt hin und her gerissen zwischen unserem Verlangen nach Verbundenheit mit der Natur und unserem Verlangen nach Technologie.
Was hat das mit Ihrer Kunstform, dem chorischen Theater, zu tun?
Der Chorus ist das Kollektiv unserer Körper, die alle im gemeinsamen Atmen zusammengehalten werden. Im Atmen verbinden wir uns mit der ganzen Natur. Corona überträgt sich durch den Atem. Er ist unser Lebenselement, zugleich aber bringt er uns den Tod. Das ist das Ende des Chors, könnte man sagen. Corona zerstört die Gemeinschaft der atmenden Körper. Aber ich gebe nicht auf. Ich werde das Digitale jetzt mit einbeziehen in den Chorus. Er steht der Technologie jetzt nicht mehr gegenüber. Er integriert sie. Der Chorus beginnt mit Lippensynchronisation, er bewegt sich zwischen einer natürlichen und einer digitalen Stimme. Ich nenne dies den neuen rituellen/digitalen Chorus. Aber ich nutze diesen Zwang zur Befreiung aus alten Gewohnheiten. Corona hat uns an der Reinheit der Körper zweifeln lassen. Sie sind nicht mehr per se Utopie.
Corona ist also nicht das Ende des Chors.
Die Virolog*innen sagen uns, der Chor sei die gefährlichste Form des Zusammenseins. Wir müssen uns also besonders in Acht nehmen. Ich dachte also zuerst an den Ein-Personen-Chorus als Lösung aus diesem Dilemma. Im Oktober zeigten wir im Maxim Gorki Theater Community: An App for One Person. Damals fragten wir nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit des Chors in Zeiten sozialer Distanz. Wie lässt sich eine Welt von Beziehungen außerhalb von Beziehungen herstellen? Wie können wir eine gemeinsame Luft zum Atmen finden, wenn es uns verboten ist, dieselbe Luft zu atmen? Meine Antwort auf die Pandemie knüpfte an Versuche an, die wir schon vor der Pandemie mit dem Political Voice Institute unternommen hatten. Den Chorus um digitale Teilnehmer*innen zu erweitern, war jetzt nicht mehr nur eine willkommene Bereicherung – Figuren aus Zeichentrickfilmen, Computerspielen, der Klang von Sortieralgorithmen zum Beispiel –, Startpunkt des neuen Chorus.
Das gefällt Ihnen?
Mich fasziniert das Changieren, das Feld zwischen wirklichem und virtuellem Atem. Wir mischen viel unterschiedlichere Töne. Ich denke dabei an das alte hebräische Wort Magrepha.
Was ist das?
Ursprünglich eine Schaufel. Sie diente dazu, die Asche der Opfergaben zu beseitigen. Im Jerusalemer Tempel gab es auch eine Orgel, die Magrepha hieß. Jede einzelne ihrer Pfeifen soll in der Lage gewesen sein, 100 Töne zu produzieren. Das ganze Instrument konnte also Tausende Stimmen erklingen lassen. Der Chorus wurde schon immer um technologische Töne vermehrt. Magrepha tat beides: Sie sammelte die Asche ein und sie vermehrte die Stimmen der Lebenden. Ähnliches versuchen wir heute. Natürlich ist das schwierig. Aber wir müssen uns auseinandersetzen mit unserer Lage, müssen nach Lösungen suchen. Wenn wir keine finden, wird der Chorus, wird die Gemeinschaft sterben. Wir experimentieren im chorischen Theater, so wie wir alle derzeit in unserem Leben experimentieren, mit den neuen Verhältnissen von Nähe und Distanz. Das ist meine komplizierte Antwort auf die Pandemie. Aber die Situation ist ja selbst auch kompliziert.
Wie kamen Sie auf den Chorus? Entdeckten Sie ihn in der Oper, in der Rockmusik oder bei den antiken Tragödiendichtern?
Als ich die antiken Texte las, war mir sofort klar: Ich musste noch einmal ganz von vorne anfangen. Mir war klar: Der Chorus muss der Hauptcharakter der Stücke sein. Er hat die größte Kraft. Aber mir war unklar, wie er heute dazu gemacht werden könnte. Ich musste den Körper gewissermaßen neu erfinden. Er brauchte auch eine neue Sprache, eine neue Musik. Die Körper mussten ganz anders geschult werden. Ich spürte die große Kraft, die im Chorus lag. Aber gleichzeitig war sie verborgen. Das chorische Theater, das ich aus Polen und Deutschland kannte, uniformierte die Menschen, machte sie zu Maschinen. Das wollte ich nicht. Und ein Zurück zur Antike kam auch nicht in Frage: Damals waren die Autoren Männer, die Akteure und der Chor – alles Männer. Schon dass in meiner ersten Chorarbeit alles Frauen waren, war eine gewaltige Neuerung.
So haben Sie vor zehn Jahren mit einem Schlag alles geändert.
Am Anfang war diese große Geste. Ich kam mir sehr revolutionär vor. Die Sprache der alten Tragödien ist voller Gewalt. Das musste ich ändern. Bald merkte ich aber, dass ich keine Poetin bin. Ich bin nicht in der Lage, für diesen neuen Chorus eine neue Dichtung zu schreiben. So kam ich darauf, unterschiedliche Sprachen, Stile, Redeweisen zu mischen. Zeitungssprache musste auf hohe Dichtung knallen. Es gibt nicht den einen Ton. Es gibt eine Vielzahl einander widersprechender Stimmen. Genau so muss es sein: Statt des einen, der den Ton angibt, darf ich nicht einfach eine setzen. Es geht um Politik. Meine Kunst ist eine politische Kunst. Neue Protagonist*innen auf die Bühne zu bringen und ihnen eine neue Sprache verschaffen. Das führt zu einem Aufeinanderprallen von Gegensätzen. Nicht nur auf der Bühne, nicht nur mit den Behörden.
Sondern auch im Kopf der jeweiligen Zuschauer*innen?
Darum ging und darum geht es. Das Publikum soll verblüfft werden. So kommt es ins Nachdenken, ins Überdenken dessen, was es bis dahin für selbstverständlich hielt. Die Aufgabe des Chorus ist es, das Unbewusste einer Gesellschaft bewusst zu machen und umzugehen mit der Brutalität, mit der unsere Welt eingerichtet wurde und in der wir Gefahr laufen, uns einzurichten. Der Chorus deckt diese Situation auf und unser Verhalten in ihr. Wie? Mit der Komposition von Wörtern und Körperbewegungen. Dabei spielt Musik eine wichtige Rolle. Die Musik hilft mir, Wörter zu transformieren und jene Mehrdeutigkeit herzustellen, ohne die eine neue Gesellschaft nicht existieren kann. Das klingt kompliziert, aber …
Sie mögen es, wenn es kompliziert ist?
Kompliziert ist interessanter und näher an der Wirklichkeit als einfach. Ich kopiere nichts, ich baue meine eigenen Sachen. Das ist meine Strategie. Ich muss alles verwenden, denn ich träume von einem großen Ensemble, in dem alle Lebewesen zu Wort kommen. Die lebenden Stämme und die getöteten. Das ist eine ambivalente Utopie. Aber mir erscheint sie, nicht zuletzt auch dank der digitalen Errungenschaften, endlich auch möglich zu sein. Wir müssen heute an einer neuen Welt arbeiten, die uns alle verbindet.
Interview: Arno Widmann