GEBURTSTAGSÜBERRASCHUNG

Von ARAM TAFRESHIAN

Was kann uns Gorki heute noch erzählen? Diese ewige Jubiläumsfrage. Da geht es doch sowieso nur um Publicity und Imagepflege. Und jetzt soll ich mir etwas zu seinem 150. Geburtstag aus den Fingern saugen? Ich dachte, wir wollten kein normales Stadttheater sein! Aber was weiß denn schon ich. Wenn ich etwas gelernt habe in den letzten Jahren, dann ist es, keine vorschnellen Schlüsse zu ziehen.

Als ich zum Beispiel hörte, dass das künstlerische Team vom Ballhaus Naunynstraße das Maxim Gorki Theater übernehmen würde, war mein erster Gedanke: Schade, ein Theater, dass sich nur mit einem Thema auseinandersetzt, aus einer Perspektive, das interessiert mich nicht. Ich hatte das Ballhaus Naunynstraße bis dahin nicht einmal besucht. Auch die Tatsache, dass ich zwei Staatsbürgerschaften habe, hatte mein Interesse am postmigrantischen Theater nicht geweckt. Im Gegenteil, ich wollte nicht wieder dieselben Geschichten hören und erzählen, mit denen ich aufgewachsen war. Oft genug hatte ich das Gefühl gehabt, zwischen den Welten zu stehen.

Mein Vater kommt aus dem Iran. In Indien, wo er studierte, hat er meine deutsche Mutter kennengelernt. Während meiner ersten Lebensjahre verließen auch viele Verwandte meines Vaters den Iran. Unsere kleine Wohnung war stets ihre erste Anlaufstelle. Ich liebte das. Wir hatten immer Besuch und natürlich standen die Kinder im Zentrum der Aufmerksamkeit. In stundenlangen Erzählungen erfuhr ich von den Strapazen und Ungerechtigkeiten, die viele von ihnen durchlebt hatten, bis sie hier gelandet waren. Ich sah, wie mein Vater völlig übermüdet nach Hause kam, nachdem er nachts bei der Post Pakete sortiert hatte, um sein Studium tagsüber zu ermöglichen, das er erneut machen musste, weil sein Abschluss aus Indien nichts wert war. Wenn er dann zu Hause war, ging meine Mutter zur Arbeit. Mein Lieblingslied war damals Papa bist du müde von Rolf Zuckowski. Ich selbst hatte keine Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht – höchstens am Telefon, wenn die Leute nur meinen Namen hörten –, denn meine Haut ist durch irgendeinen genetischen Zufall weiß, meine Haare sind rot. Apropos rot, später dann, im Schauspielstudium traf ich Kommiliton*innen, mit denen ich Stücke machte, die antikapitalistischer kaum sein konnten, für die wir ehrlich und mit vollem Herzen brannten. Ich stand auf der Bühne und sagte: »Das Ganze muss ganz und gar anders werden.« Fast alle waren wir weiß und gebildet und konnten uns das Studium leisten. Der Kampf, den wir führten, war ein hypothetischer. Wir hatten wenig erlebt, aber wir hatten Zeit, Geld und Wissen und konnten damit machen, was wir wollten. Wir hatten die Zeit, ein unfaires Spiel zu kritisieren, weil wir das ganze Stadion bekommen hatten. Ich unterschrieb nur wenige Monate später einen Vertrag am Maxim Gorki Theater, denn ich hatte schon bald begriffen, dass ich dort nicht weniger, sondern mehrere, unterschiedliche, neue Perspektiven sehen würde, als woanders. Bald erlebte ich am eigenen Leib, was es heißt, wenn mit verschiedenen Maßstäben gemessen wird: »Ach so, dein Vater ist ja Iraner, deswegen hast du es ans GOЯKI geschafft.« Ganz offen sprachen alte Kolleg*innen und Freund*innen vom »Ausländerbonus«, »Nischentheater« oder »Sozialarbeit«. Ein bezeichnender Titel einer Kritik aus der Welt zur Inszenierung Der Untergang der Nibelungen lautete: »Multikulti-Ensemble scheitert an Hebbels Sprache«.

Am GOЯKI durfte ich erleben, was für eine Kraft entfesselt wird, wenn man Politik persönlich nimmt. Und wie verletzlich man sich dabei macht. Das war kein gewöhnliches Stadttheater und wollte es auch nicht sein, weswegen es natürlich auch vollkommen egal war, ob das »Multikulti-Ensemble« nun »Hebbels Sprache« so meistert, wie es sich die Springerpresse vorstellt. Aus dem Maxim Gorki Theater wurde das GOЯKI. Der kyrillische Buchstabe ist das Personalpronomen der 1. Person Singular im Russischen, bedeutet also ich. Es ist kein Buchstabe, der im deutschen Alphabet existiert. Die Botschaft war eindeutig. Jetzt bin ich dran. Ich unterrepräsentierte*r Künstler*in aus aller Welt, von allen Geschlechtern, aus jeder Klasse, jetzt rede ich mal über mich. Eine Personalie war dabei zu Recht unwichtig geworden: Maxim Gorki. Dessen Nachname der sich auf kyrillisch Горький schreibt, wurde ironischerweise in seiner deutschen Schreibweise um einen kyrillischen Buchstaben ergänzt. Ein Personenkult um irgendeinen weißen Schriftsteller wäre auch wirklich fehl am Platz gewesen. Das ist fünf Jahre her. Und nun bekomme ich einen Anruf aus der Dramaturgie des GOЯKI mit der Bitte, einen Text zu schreiben.

Über genau diesen Schriftsteller. Er hätte ja bald 150. Geburtstag. Aha. Wusste ich nicht. Sie scheinen selbst alle etwas überrascht davon zu sein. Und was soll ich jetzt dazu sagen? Nun ja, ich hätte mich doch ausgiebig mit dem Politischen Theater und dem Klassenkampf beschäftigt in meiner Diplomarbeit. Ja, mit Brecht, mit Piscator, im Berlin der Weimarer Republik, aber von Gorki habe ich nicht den blassesten Schimmer, obwohl er ja irgendwie trotzdem noch der Namensgeber des Theaters ist, an dem ich arbeite. Ich kann ihn weder zeitlich noch politisch genau einordnen. Aber was soll’s, denn wie eine kurze Online-Recherche auf dem Smartphone zeigt, war auch schon Gorki der Meinung: »Man muss nicht in der Bratpfanne gelegen haben, um über ein Schnitzel zu schreiben.« Also los. Man zeigt mir die kleine Bibliothek im dritten Stock des Theaters (von der ich auch nichts wusste). Ich finde eine alte Biographie und einen  ergilbten, roten Band aus den Sechzigern mit dem Titel Lenin und Gorki. Eine Freundschaft in Dokumenten und versuche herauszufinden, wo Gorki eigentlich politisch stand. Ich habe die ganze Zeit diesen Satz von Heiner Müller im Kopf, den ich bei irgendeiner Lesung vorgetragen habe: »Gorki während er zweispännig durch Moskau fuhr / Haßte die Armut weil sie erniedrigt / Warum nur die Armen«. Klaus Mann hatte vom »fürstlichen Luxus« in Gorkis Villa berichtet, lese ich auf dem Smartphone. Daher bin ich überrascht, dass er kein wohlhabender Student war, sondern schon als Kind, nach dem frühen Tod der Familie, von der Hand in den Mund leben musste und als Autodidakt zum Schriftsteller wurde. Zwischenzeitlich war er so verzweifelt gewesen, dass er sich in die Brust schoss, jedoch das Herz verfehlte. Seitdem war er Lungenkrank. Eine Bäckerei, in der er irgendwann auch arbeitete, war gleichzeitig die Bibliothek eines Marxistischen Geheimzirkels. Gorki wurde zum Klassenkämpfer. Die Stücke, in denen er fast zeitgleich mit Tschechow den Zerfall des zaristischen Russlands beschreibt, machten ihn schlagartig berühmt. Doch im Gegensatz zu den meisten seiner Schriftstellerkollegen war er nicht als Teil des zaristisch-bürgerlichen Establishments auf die Welt gekommen. Gorki macht Revolution. Gorki verlässt das Land. Gorki ist mit Lenin befreundet. Gorki erzählt Lenin, wie schön es auf Capri ist. Gorki und Lenin streiten sich über Fragen der marxistischen Philosophie. Lenin überzeugt Gorki irgendwann von seinem Irrglauben. Nochmal Revolution. Diesmal klappt’s. Gorki versucht dem Verfall von Wissenschaft und Kultur entgegenzuwirken. Lenin ist erneut anderer Meinung und »empfiehlt« Gorki einen »Urlaub« zu machen. Gorki geht erneut ins Exil, vorgeblich zur Erholung der kranken Lunge an verschiedenen deutschen Kurorten vom Schwarzwald bis zur Ostsee, bezahlt von der sowjetischen Handelsmission, die gleichzeitig deutsche Zentrale der TSCHEKA ist. Lenin stirbt. Stalin kommt an die Macht. Gorki kehrt zurück und wird dessen Vorzeigeschriftsteller, Vorbild für den ›sozialistischen Realismus‹ und deshalb Namensgeber dieses kleinen Theaters. Und jetzt soll ich mir etwas zu seinem 150. Geburtstag aus den Fingern saugen? Ich dachte, wir wollten kein normales Stadttheater sein!

Und so richtig einordnen kann ich ihn immer noch nicht. Aber vielleicht ist es gerade diese Widersprüchlichkeit, die mir Gorki, der mir so fern ist, auf Umwegen nahe bringt. Diese Überzeugung, auf der richtigen Seite zu stehen und gleichzeitig der Wunsch, dazuzugehören, Anerkennung zu finden. Das kommt mir irgendwie auch bekannt vor. Auch ich frage mich in letzter Zeit immer wieder, ob ich mit dem, was ich tue, eigentlich auf der richtigen Seite stehe, wenn die Bundeskanzlerin, der Bundespräsident und Konsorten sich hier im GOЯKI zeigen und dann ertappe ich mich dabei, trotzdem wahnsinnig stolz zu sein, wenn ich mal zwei Worte mit einem von diesen »wichtigen« Menschen gewechselt habe. Ich habe in den Kreisen, in denen ich mich bewege, weniger Scham, zu erzählen, dass ich Halb-Iraner bin, als dass ich Schwabe bin. Ich schimpfe gerne über Latte-Macchiato-Mütter, liebe aber guten Kaffee. Immer öfter kaufe ich im Bio-Laden ein, werde aber nie müde zu betonen, dass es mir dabei nicht um irgendwelche Öko-Ideologien geht, sondern um die Qualität der Produkte. Vor nur fünf Jahren, zur Eröffnung des neuen GOЯKI, habe ich mit meinen Mitstreiter*innen noch darum gekämpft, dass dies hier auch meine »Heimat« ist, egal wie unaussprechlich unsere Namen sind oder wie wir aussehen. Seit es einen Minister für Heimat geben soll, will ich diesen Begriff gar nicht mehr in den Mund nehmen. Konservative, die uns damals Fähigkeit abgesprochen haben, gute deutsche Bühnenkunst zu machen, verteidigen heute unsere Kunstfreiheit gegen die Neue Rechte. Gleichzeitig kommt es immer öfter vor, dass mir eine Inszenierung zu brav, zu bürgerlich erscheint, die dann in der Kritik als mutiges politisches Statement gefeiert wird.

Die AfD wurde vor fünf Jahren gerade erst gegründet, unter anderem aus Protest gegen die deutsche Finanzpolitik in der Eurokrise. Die FDP dagegen schien kurz vor dem Begräbnis. Man sprach von einer Krise des Kapitalismus, kaum jemand von der Krise der Demokratie. Mir kommt das fast vor, wie eine andere Zeit. Wie naiv ich doch war, zu glauben, dass sich diese Krise aussitzen lässt! Es wird ja heute nicht mal mehr angezweifelt, dass diejenigen die viel haben, immer mehr bekommen und denjenigen, die wenig haben, immer mehr weggenommen wird, auch wenn die Passagen über das Verhältnis von Armut, Reichtum und (repräsentativer) Demokratie, über Lobbyismus und dem Verhältnis von Einfluss und Höhe des Einkommens einfach aus dem letzten Armuts- und Reichtumsbericht gestrichen wurden. Und es werden ja auch tatsächlich immer mehr Befugnisse an nicht gewählte Institutionen wie Zentralbanken, Verfassungsgerichte, EU-Kommissionen vergeben. Was gilt es eigentlich zu verteidigen? Sicher nicht Finanzkrisen, Kriege, Steuerflucht, Ungleichheit, Folter, Überwachung. Rassismus ist keineswegs ein Relikt alter, dunkler Tage, ebenso wenig Sexismus oder Klassismus, die Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft. Und es wurde auch deutlich, dass diese Dinge systemisch sind. Trotzdem diskutieren manche, die sich linke Intellektuelle nennen, lieber über Genderwahn und political correctness, als über Prekarisierung und die soziale Frage. Ich kenne nicht wenige, die mehr Wut auf Bioläden haben, als auf Großkonzerne. Als wäre der feministische, queere, anti-rassistische Kampf nicht vereinbar mit der sozialen Frage. Andere behaupten, klassisches »Rechts-Links-Denken« sei nicht mehr zeitgemäß. Auch das ist zu einfach gedacht, finde ich. Als gäbe es die Klassenfrage nicht mehr, nur weil bei uns kaum noch Fabriken stehen.

Am GOЯKI habe ich auf all diese Fragen leider noch keine Antworten gefunden, genauso wenig wie überall sonst. Trotzdem ist auch mit mir einiges passiert in den letzten fünf Jahren. Und auch wenn dieses Theater nicht die Welt verändert hat, wie denn auch, es ist ja ein Ort der Unterhaltung (im besten Sinne des Wortes), kann ich mit Sicherheit sagen, dass das GOЯKI mich verändert hat. Nicht, weil ich indoktriniert worden wäre, sondern weil mit mir gesprochen, mir oft widersprochen, ich also ernst genommen wurde. Viele der Gewissheiten, die ich zu haben glaubte, hatten mit der Realität nur wenig zu tun, mit der ich hier konfrontiert war. Maxim Gorki war der Meinung, dass die bürgerliche Theaterwelt längst den Kontakt zu den Arbeiter*innen verloren hat. Vielleicht ist es das, was mir bei der Beschäftigung mit Gorki,der vom bitter armen Gelegenheitsarbeiter zum privilegierten Klassenkämpfer wurde, nochmal klar wurde: Antifaschismus und die soziale Frage gehören zusammen. Ersteres können wir schon ganz gut hier am GOЯKI. Aber es ist kein Entweder- Oder. Es macht doch wenig Sinn, Symptome zu behandeln, ohne ihre Ursache zu bekämpfen. Systemkritik und der Kampf gegen Diskriminierung sind nicht nur vereinbar, sondern bedingen sich gegenseitig. Unsere geheime Bibliothek im dritten Stock sollten wir dabei genauso wenig vergessen, wie unsere eigenen politischen Biografien. Und dann los. Denn wie mein alter Freund und Wegbegleiter Maxim Gorki schon sagte: »Jeder weiß, dass es viel schwieriger ist, Worte in Taten zu verwandeln, denn Taten in Worte.«

Dieser Text von Aram Tafreshian erschien im Gorki-Spielzeitheft #16

Ab 15. Juni ist Aram in in
Die Letzten von Maxim Gorki zu sehen, inszeniert von András Dömötör.