Zeichnung: Serkan Altuniğne
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Für alle, die das 100-jährige Jubiläum der Türkischen Republik im Exil begehen müssen…
Am 3. Oktober 2018, zum Tag der Deutschen Einheit, habe ich das Stück GRUNDGESETZ von Marta Górnicka in Berlin gesehen. Das Gorki hatte auf der Bühne, die vor den Pfeilern des Brandenburger Tores aufgebaut wurde, das Grundgesetz »aufgeführt«. Die Schauspieler*innen und Laien, repräsentierten die deutschen Bürger*innen jeder Herkunft, jeder Hautfarbe und jeder Gesellschaftsschicht und rezitierten Artikel des Grundgesetzes.
Zuerst wurde die Präambel gesprochen, die besagt, dass das Grundgesetz für das »gesamte deutsche Volk« gilt, vom Willen beseelt, dem Frieden der Welt zu dienen. Danach trat der Chor nach vorn und rief aus, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Es war, als fasste der weitere Text nach und nach alle Errungenschaften der Menschheit zusammen: »Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.« »Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.« »Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.« »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Und »Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand (...)«
Es war wie ein Manifest der Freiheit für eine Gesellschaft, die von einem schweren Regime der Unterdrückung befreit wurde. Jeder Artikel war eine Erklärung der Rechte, die von der Person repräsentiert wurde, die sie las. Jeder Satz spiegelte den Willen einer Gesellschaft wider, die so sehr unter einer Diktatur gelitten und beschlossen hatte, die Macht zu verteilen und das Volk vor autoritärer Unterdrückung zu schützen, um das Gleiche nicht noch einmal zu erleben. Jeder Artikel dieses Gesellschaftsvertrags, der verlesen wurde, wurde mit Applaus vom Publikum gefeiert.
Inwiefern die aufgeschriebenen Artikel in der Praxis angewandt werden und dass manches nur auf dem Papier bleibt, soll ein andermal diskutiert werden ... Als ich die Aufführung gesehen habe, musste ich jedoch unweigerlich an die Geschichte der Verfassung der Türkei denken, die in diesem Jahr ihr 100-jähriges Jubiläum feiert.
Die türkische Verfassung wird »Anayasa«, zu Deutsch »die Mutter der Gesetze« genannt. Ich bin so alt wie die freiheitlichste türkische Verfassung, die es je gab. Die Verfassung von 1961, die nur drei Wochen nach meiner Geburt mit einem Referendum durchgesetzt wurde, ist ebenfalls nach einer Zeit der Unterdrückung und als Reaktion auf diese Zeit entstanden. Auch ihr Text begann mit Worten, die einem Manifest glichen:
»Die türkische Nation, die von ihrem Recht Gebrauch machte, sich einer Regierung zu widersetzen, die mit ihren verfassungswidrigen und rechtswidrigen Einstellungen und Verhaltensweisen ihre Legitimität verloren hat, vollzog am 27. Mai 1960 eine Revolution.«
Eine machtkorrumpierte Regierung wurde im Mai 1960 durch einen Militärputsch gestürzt. Das Militär ließ eine neue Verfassung von Universitätsprofessoren schreiben. Die Begeisterung war so groß, dass am Tag des Staatsstreichs der »Tag der Verfassung« ausgerufen wurde. Doch drei Monate nach der Verabschiedung der Verfassung wurden der Premierminister Adnan Menderes und zwei Minister, der gestürzten Regierung, Fatin Rüştü Zorlu und Hasan Polatkan gehängt.
Dies war ein Wendepunkt in der Geschichte der Türkei. Die Mehrheit der Bevölkerung war froh, dass ein Militärputsch eine libertäre Verfassung durchgesetzt hatte. Doch schon nach kurzer Zeit kehrte man zur Tradition der Militärputsche zurück.
Als ich zehn Jahre alt war, gab es einen weiteren Staatsstreich in der Türkei. Diesmal waren es Generäle, die dachten, dass »Freiheiten zu viel für die Gesellschaft sind«. Der Anführer des Putsches sagte, »das soziale Erwachen hat die wirtschaftliche Entwicklung überholt.« Da die Wirtschaft sich in absehbarer Zeit nicht entwickeln würde, musste also das soziale Erwachen unterdrückt werden. Und so wurde es auch gemacht. Zu den freiheitlichen Gesetzen, die die Verfassung von 1961 beinhaltete, wurden Sätze, die mit »aber« begannen, hinzugefügt:
»Jeder Mensch hat Grundrechte und Freiheiten, aber diese Rechte können nicht dazu benutzt werden, die Republik abzuschaffen.«
»Das Privatleben ist zu schützen, aber wenn es um die nationale Sicherheit geht, ist es antastbar.«
»Die Presse ist frei, eine Zensur findet nicht statt, aber Publikationen, die die öffentliche Ordnung stören, können verboten werden.«
»Es steht jedem frei, Vereinigungen zu gründen, aber sie können aus Gründen der nationalen Sicherheit auch verboten werden.«
Die Liste ließe sich fortsetzen. Die Einschränkungen, die dem »aber« folgten, waren so detailliert, dass sie die im ersten Teil des Satzes genannten Grundrechte obsolet machten.
Übrigens: Während die Generäle die Verfassung änderten, schickten Richter die drei jungen linken Aktivisten, Deniz Gezmiş, Hüseyin İnan und Yusuf Aslan wegen des »Verstoßes gegen die Verfassung« in die Todeszelle.
Zehn Jahre nach der »Aber-Verfassung«, als ich 20 Jahre alt war, putschte das Militär wieder. Die neuen Putschisten befanden auch die Rechte, die vor den »Abers« standen, als überflüssig. Anstatt an den einzelnen Artikeln herumzufummeln, ließen sie eine komplett neue Verfassung schreiben. Die 15 Mitglieder, die aus den von der Junta ernannten Abgeordneten gewählt wurden, schrieben eine durch und durch der staatlichen Sicherheit unterworfene Verfassung. In der Präambel dieser Verfassung von 1982 ging es nicht mehr um die »türkische Nation, die eine Revolution vollzieht«, sondern um die »unteilbare Integrität des hohen Staates«. Eine Änderung der ersten drei Artikel, die die grundlegenden Merkmale des Staates festlegten, war nicht einmal denkbar. Die »Mutter der Gesetze« hatte ihr umarmendes, demokratisches Kostüm abgelegt und stattdessen Uniform und Stiefel angelegt.
Die Wahlurnen für das Referendum wurden aufgestellt. Weiße Wahlzettel standen für Zustimmung, blaue für Ablehnung. Als die Kampagne startete, war es fast verboten, das Wort »blau« auszusprechen. Die Gegenkampagne der Oppositionellen bestand im Hinweis auf die blauen Augen des Republikgründers Atatürk. »Seht in seine Augen und ihr wisst, was er denkt.« Die damals blauen Busfahrkarten wurden abgeschafft. In der Tageszeitung Cumhuriyet wurde eine Karikatur (s. unten) abgedruckt, in der eine Frau ihrem Mann empfiehlt, die »dingsfarbige« Krawatte nicht zu tragen. Die Wahlumschläge waren so transparent, dass man sehen konnte, welche Farbe darin steckte. 91% der Bevölkerung stimmte unter diesen Bedingungen bei dem Referendum mit Ja.
Die neue Verfassung war so maskulin, dass man sie auch »Vater der Gesetze« hätte nennen können.
Übersetzung:
Natürlich passte die Gesellschaft nicht in dieses enge Korsett. Nach kurzer Zeit waren jede Menge Löcher in der neuen Verfassung. Der erste, der sie durchlöcherte, war der neue Premierminister Turgut Özal, der die Regierung von den Militärs übernahm. Er umging das Gesetz des staatlichen Monopols für Radio und Fernsehen und gab seinem Sohn die Lizenz einen privaten TV-Sender zu gründen. Er soll gesagt haben, dass bei einem einzigen Verstoß schon nichts passieren würde. Später änderte jede neue Regierung einen Teil der Verfassung, so wie es ihr passte. Der Text wurde etwa 20 Mal geändert. Die Gesellschaft, die die militärische Verfassung zu 91% begrüßt hatte, unterstützte mit gleicher Begeisterung die vollständige Änderung ebendieser.
Als ich 40 Jahre alt war, übernahm Erdoğan die Macht und fing an, die wenigen Freiheiten, die die Verfassung noch bot, anzugreifen. Wer das Gesetz zum partiellen Alkoholverbot kritisierte, wurde von ihm mit den Worten zurechtgewiesen: »Warum sollte ein religiöses Gesetz abgelehnt werden, während das von zwei Trunkenbolden geschriebene geachtet wird.« Die einen dachten, dass mit den »zwei Trunkenbolden« Atatürk und sein Premier İnönü gemeint seien, andere dachten an die Urheber der Verfassung von 1982.
Viel wichtiger war aber, dass diese Aussage nahelegte, dass die Gesetze der Religion zu entsprechen hätten.
Als ich 50 wurde, übernahm Erdoğan mit einer Verfassungsreform die Kontrolle über die Justiz. Mit einem weiteren Referendum im Jahr 2017 änderte er in der Verfassung das parlamentarische System und ließ das Präsidialsystem, das alle Befugnisse in einer Person konzentriert, vom Volk genehmigen. Jetzt, da er stark genug geworden war, stand ihm kein Hindernis mehr im Weg. Er begann umzusetzen, was er für richtig hielt, ohne die Verfassung, Gesetze oder Regeln anzuerkennen.
Meinen 60. Geburtstag habe ich in Berlin gefeiert. Erdoğan, der im vergangenen Mai erneut die Wahl gewonnen hat, brachte bei der Eröffnung des Parlaments wieder eine neue Verfassung auf die Tagesordnung. Sie solle eine »zivile Verfassung« werden. Sie solle dem 100. Jahr der Republik angemessen sein. Sie solle durch Konsens entstehen.
Den jüngsten Diskussionen nach zu urteilen, wird die Priorität auf Artikeln liegen, die das Recht von Frauen auf Verhüllung garantieren und die LGBTQI+-Rechte unter dem Vorwand der »Stärkung der Familie« vollständig abschaffen.
Auch jene Artikel, die als unveränderbar niedergeschrieben sind, sollen verändert werden. Das Ein-Mann-Regime wird so institutionalisiert, dass es auch Erdoğan selbst überleben wird.
Wie Sie sehen, ist die Geschichte der Türkei in den letzten 60 Jahren, die meiner Lebenszeit entspricht, die Geschichte des Entzugs verfassungsmäßiger Rechte und Freiheiten und der Errichtung eines autoritären Regimes.
Meine Sorge ist, dass, wenn ich 70 Jahre alt werde, sich die Parteijugend auf einem Platz in der Türkei versammelt und der Menge die unveränderbaren Artikel einer neuen repressiven Verfassung verliest, während sie alle alten Verfassungen verbrennt:
»Vor dem Gesetz sind alle gleich, aber Parteimitglieder sind gleicher.«
»Oppositionelle Meinungen sind nicht von der Meinungsfreiheit gedeckt.«
»Jeder kann zum bewaffneten Kriegsdienst gezwungen werden.«
»Der Versuch, die verfassungsmäßige Ordnung zu stürzen oder sich den Geboten der Religion zu widersetzen, wird mit dem Tode bestraft.«
Ist das zu pessimistisch? Oder weist der Lauf der Dinge nicht längst darauf hin?