CAN DÜNDARS THEATER KOLUMNE #23

CAN DÜNDAR’IN TİYATRO SÜTUNU
Can Dündars Theater Kolumne

– Seit Jahren schreibe ich Theaterstücke, führe Regie und spiele, aber noch nie wurde ich angeklagt… Bin ich etwa regierungstreu oder bin ich nur ein miserabler Theatermacher?
– Hoffentlich bin ich nur ein miserabler Theatermacher…

Zeichnung: Serkan Altuniğne

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Die Theaterbühne im Gerichtssaal

Erkal inszenierte das Stück Ich, Bertolt Brecht, frei nach Gedichten und Stücken von Bertolt Brecht, im Jahre 2012. Zu Beginn seines Stücks Furcht und Elend des Dritten Reiches beschreibt Brecht die deutsche Heerschau. Adolf Hitler bezeichnet er als »jener, der von sich sagt, Gott habe ihn gesandt...« Die Volksgemeinschaft antwortet: 

Sie wünschen, dass das Volk ein mächtiges
Gefürchtetes, andächtiges
Und folgsames Volk sein soll.

Zehn Jahre nach der Premiere dieses Stücks wurde Genco Erkal angeklagt, den Präsidenten der Türkischen Republik Recep Tayyip Erdoğan (der über den Putschversuch gegen ihn auch sagte, Gott habe ihn gesandt*), beleidigt zu haben.

Genco Erkal ist 83 Jahre alt, seit 60 Jahren steht er auf der Bühne. Er ist einer der berühmtesten und beliebtesten Schauspieler der Türkei. Zu Zeiten der Militärputsche und Ausnahmezustände wurden seine Stücke schon mal verboten, aber er wurde noch nie verhaftet. Jetzt fordert die Staatsanwaltschaft vier Jahre und acht Monate Haft für ihn. 

Die Anklage bezieht sich auf drei Tweets aus den Jahren 2016 und 2020. In dem Tweet vom 7. Juni 2016 antwortet er Erdoğan, der von Ehepaaren mindestens drei Kinder forderte, so: »Anstatt dich in Familienpläne einzumischen, veröffentliche mal lieber dein Diplom. Auch wenn es von deinem Freund, dem Rektor, oder gefälscht ist, zeig doch mal her.«
Es ist immer noch unklar, ob Erdoğan ein Universitätsdiplom hat, oder nicht. Und weil er kein Diplom vorweisen kann, ist auch seine Präsidentschaft umstritten.
Am 16. November 2016 twitterte der Künstler: »Ein Präsidialsystem ist nicht genug. Ein Hirtensystem nach türkischer Art sollte es sein.«
Der letzte Tweet, der Gegenstand der Untersuchung ist, ist vom 16. August 2020: »Erdoğan sagte, ›Wir planen die Fertigstellung der Bauarbeiten auf dem Ayder Plateau für 2022.‹ Um Himmels Willen, er hat beschlossen, das Naturwunder Ayder fertig zu machen. Was immer er anfasst, wird ausgetrocknet und betoniert.«

Fünf Jahre nachdem diese Tweets abgesetzt wurden, hat ein Denunziant Beleidigung in ihnen gesehen und Anzeige erstattet. Die Staatsanwaltschaft hat seine Behauptung ernst genommen und eine Anklageschrift verfasst. Wie Sie sehen können, ist in den Tweets weder Beleidigung noch Hohn. Es ist Kritik, aber wenn es um den »unantastbaren« Erdoğan geht, wird keine Kritik geduldet.

Von 2014, als Erdoğan das Amt übernommen hat, bis 2020 wurden 63.000 Menschen wegen Beleidigung angeklagt, etwa 10.000 davon wurden verurteilt. Mit diesen Zahlen wurde Erdoğan »das meistbeleidigte Staatsoberhaupt«.

Erst im Februar standen zwei weitere, in der Türkei sehr bekannte Theatermacher wegen Präsidentenbeleidigung vor Gericht. Der Staatsanwalt forderte bis zu vier Jahre Haft. Metin Akpınar war 80, Müjdat Gezen 78 Jahre alt. Gezens »Schuld« war es, Erdoğan »in die Schranken zu weisen«.  Erdoğan selbst nutzt jede Gelegenheit, jede*n in die Schranken zu weisen. Der Angeklagte Gezen verteidigte sich vor Gericht mit einem sehr einfachen Argument: Wenn es eine Beleidigung wäre, jemanden in die Schranken zu weisen, würde es der Präsident doch nicht tun. Schließlich wurden beide Künstler freigesprochen. Sicher ist allerdings, dass diese Ermittlungen und Anklagen viele Menschen dazu zwingen, gründlich nachzudenken, bevor sie einen kritischen Tweet absetzen. Wie in dem Stück soll das Volk Angst haben vor den Regierenden, es soll ein folgsames sein.

Doch diese Repressionen können auch Gegenreaktionen auslösen. Denn wie die Furcht ist auch der Mut ansteckend. Am 17. Juni veröffentlichte eine Gruppe berühmter Künstler*innen einen offenen Brief mit dem Titel Wir fürchten uns nicht. Sie wiesen in dem Brief darauf hin, dass Erdoğan eine Alleinherrschaft anstrebe, Künstler*innen wegen ihrer Meinungen verurteilt würden. »Volkskünstler*innen sind glücklich, wenn das Volk glücklich ist und unglücklich, wenn das Volk unglücklich ist. Wenn wir die bitteren Worte, die sich in uns aufgestaut haben, offen und furchtlos aussprechen, dann tun wir das für das Glück unseres Landes. Ja, wir fürchten uns nicht. Unsere Furchtlosigkeit ist kein gewöhnlicher und unbegründeter Mut. Sie gründet auf der Liebe, das Wissen und den Glauben an die hohen Werte unseres Volkes und unseres Landes. Wir fürchten uns nicht. Wir rufen all unsere Bürger*innen auf, mutiger, selbstbewusster, selbstsicherer und entschlossener zu sein.«

Nachdem die Anklageschrift gegen Genco Erkal veröffentlicht wurde, musste er jenen, die ihn aufforderten, doch in das Parlament zu gehen, wenn er Politik machen wolle, von Neuem erklären, dass Kunst politisch ist. Über die sozialen Medien erklärte er: »Ich werde vor Gericht nicht nur mich verteidigen, sondern vor allem die Grundwerte der Republik, die Natur, die Demokratie, die Menschenrechte und die Meinungsfreiheit. Ich bedanke mich dafür, dass ich diese Chance bekommen habe.«

Auf Theaterbühnen wurden schon oft Gerichtssäle aufgebaut, doch in der Türkei ist es gerade so, dass Tribunale zu Theaterbühnen werden. Was das Publikum im Theater nicht hören kann, hört es im Gerichtssaal. Künstler*innen, denen die Bühnen verboten werden, trifft es in Verhandlungssälen. Und Theatermacher*innen verkünden ihre Botschaften nicht vor Publikum, sondern vor der Gerichtsbarkeit. Sie werden nicht angeklagt, sie klagen an. 

Es täte gut, bei diesen Gerichtsverhandlungen deutsche Künstler*innen in Solidarität mit den türkischen Theatermacher*innen zu sehen. Es täte gut, wenn wir Künstler*innen, Kunstwerke, und die Unantastbarkeit der Meinungsfreiheit gemeinsam verteidigen könnten. Es täte gut, wenn wir der Welt zeigen könnten, dass jede Anklage gegen eine*n Künstler*in eine Anklage gegen alle Künstler*innen ist und dass wir jede Repression gegen die Kunst gemeinsam bekämpfen. 

*Erdoğan nannte den verunglückten Putschversuch ein »Geschenk Gottes«, damit er das Militär säubern könne. (Anm. d. Übers.)