Was wollen die Nationalist*innen in deinem Land wirklich und welche gesellschaftspolitische Funktion übernimmt das Theater zur Erschaffung neuer sozialer Spielregeln? Wir haben vier Künstler*innen aus vier verschiedenen Ländern diese zwei Fragen per Mail gestellt. Die hier abgedruckten Antworten erscheinen in gekürzter Version, auf der Website des Gorki gibt es diese in voller Länge zu lesen. Mit ihren Arbeiten und Gedanken über Nationalismus, um sich greifende Paranoia, verdrängter Geschichte und Identitätskonstruktionen beziehen diese Künstler*innen (und selbstverständlich viele weitere) während des Festivals Position. Kevin Rittberger aus Deutschland sucht in seinen transzendentalen Versuchsanordnungen mittels Geschichte nach Spuren von performativen Neuanfängen. Marta Górnickas konstante Beschäftigung mit der Form des Chores lässt sie immer wieder in neue Untiefen über die Gefahr des Wortes stoßen. Der aktuell in Kroatien lebende Oliver Frljić bearbeitet in seinen oft kontrovers diskutierten Theaterstücken die historischen und diskursiven Momente europäischer Geschichte auf schmerzvolle Art und Weise auf. Und der aus der Türkei stammende Tunçay Kulaoğlu beschäftigt sich aktuell in seinen Theaterproduktionen und Essays mit den sozialen und politischen Geschehnissen in der Türkei nach dem Putsch.
#1 Wie kein anderes funktioniert das nationale Prinzip als Konstitutionsmechanismus für Gruppen. »Ganz allgemein speist sich die kollektive Selbstbehauptung nun aus der Zugehörigkeit zu einem Land, als dessen natürlicher Herr und Besitzer man sich fühlt und das seinen Bewohnern staatsbürgerliche Rechte oder Anrechte garantiert, auf die man einen exklusiven Anspruch zu haben meint.« Didier Eribon Worauf ist der Nationalist – in deinem Land – eigentlich stolz? Was ist sein Interesse, was seine Ideologie?
Nationalist ideals in POLAND have always been tied to BEAUTY, LOVE and TRUTH – that is, GOD. Catholicism in my country is the foundation of nationalist ideology. And GOD is its ideal and keyword. The NATION is CHRIST who always suffers innocent for the sins of others. It is an extremely masochistic and narcissistic construction. We do not negotiate our matters with others, indeed with settle them with God only. The FATHERLAND is Christ, who is THE WAY, THE TRUTH, AND THE LIFE, but the Life is guaranteed only to POLES, not STRANGERS, and especially not GERMANS, JEWS (or LGBT people). The FATHERLAND is a beautiful and glorious country, without germs or foreigners. HERE only WE breed. The NATIONALIST is a fighter. He fights in defense of the NATION, and the slogan he shouts out in the street is: Death to the fatherland’s enemies! A NATIONALIST is the one who is a True – Pole, a True –Patriot and a True – Human… Who opposes »barbarity«.
In meinen Lieblingshassländern Almanya und Türkiye, womit ich mich am besten ausskenne, sind Nationalisten, dazu zähle ich auch die sogenannten Patrioten, auf die gleichen Sachen stolz: Volk, Fahne, Hymne oder Wurst... Wie sonst überall auf der Welt auch übrigens, abgesehen vielleicht von Wurst. Die konstitutiven Entstehungsmomente aller Nationen sind sich in ihrem Wesen gleich. Daher macht es überhaupt keinen Sinn über die Unterschiede, die gewiss bestehen, zu sinnieren. Denn die Frage, ob Mettwurst oder die Knoblauchswurst besser schmeckt ist reine Geschmackssache und spielte nirgends auf der Welt eine Rolle als Volkskörper aus dem Boden gestampft wurden. Nation Building ist keine Sache, die man einfach so mit links erledigen kann. Zwischen Magna Charta und der Französischen Revolution liegen 574 Jahre voller blutiger Kämpfe, deren Opfer und Täter nicht im Geringsten eine Ahnung davon hatten, dass am Ende die Fiktion Nation entstehen wird. Gesellschaftliche Klassen und Schichten fochten Kämpfe aus, um ihre Interessen durchzusetzen. Menschenrechte waren da stets im Fokus. Universelle Forderungen gegen Unterdrückung und Ausbeutung. So etwas brennt sich ein in das kollektive Gedächtnis eines jeden Kampfes, um am Ende, und das scheint die Regel zu sein, durch Volk, Fahne, Hymne und Wurst pervertiert zu werden.
Stolz sind die intellektuelleren unter den hauptsächlich weißen, männlichen Nationalisten darauf, dass sie sich und anderen eine Fiktion immer noch als Wahrheit verkaufen können, die eine gewaltige, wirkliche Blutspur hinter sich her schleift. Nationalismus ist ja eine irrsinnige Verdrängungsleistung. Dass also manch einer heute Morgen aufsteht, in den Spiegel schaut und zu sich sagt: Durch deine Adern fließt anderes Blut, das Blut deiner Väter. AfD-Wähler lassen sich obendrein noch für völlig dumm verkaufen, wenn sie sich die Einsicht in eine Finanz- und Kapitalismuskrise durch eine sogenannte »Flüchtlingskrise« vertauschen lassen. Man kann auch nicht in die 50er-Jahre zurück wollen, um die homogene Gemeinschaft wiederzufinden und gleichzeitig die Früchte der Globalisierung ernten. Die Stimmenfänger wissen ja, dass sie mit einem vermeintlichen Kulturkampf Klasseninteressen verschleiern. Die hartnäckigste Elite ist ja weiß und männlich und sitzt global gesehen tatsächlich in Deutschland. Das alles spielt sich jenseits von Leistungsgerechtigkeit ab.
I would like to quote here Ernest Gellner's widely known definition of nationalism, saying that »nationalism is primarily a political principle, which holds that a political and national unit should be congruent.« This is the ideology or normative idea of the Croatian nationalist. S/he thinks that that the ultimate self-realization of Croatian nation is the national state. The Croatian nationalist has a very selective memory regarding Yugoslavia. The only allowed discourse in public sphere is the one stigmatizing Yugoslavia. And there is a parallel process of relativization of the Yugoslavian antifascist movement, since it had a transnational character, opposite to national homogenization which was the agenda of Independent State of Croatia, as well as of Republic of Croatia since it has gained the independence in 1991. This is why I use very often in my work the concept of counter-memory: Theater becomes the place of remembering what is expelled from official memory, to commemorate that which was officially doomed to be forgotten.
#2 Das diesjährige Theaterfestival am Gorki heißt Uniting Backgrounds. Der Begriff des Hintergrunds zieht sich auf mehreren metaphorischen Ebenen durch die Idee des Festivals, insbesondere in der Frage, auf welchen bestehenden gesellschaftlichen Grundpfeilern und neu zu findenden Spielregeln politische Kommunikation stattfinden kann. Welche gesellschaftspolitische Funktion übernimmt das Theater in dieser Hinsicht für dich, oder hat es zu erfüllen?
The CHORAL theater which I create is always a direct reaction to a given socio-political reality. To me, the CHORUS is a social body and, at the same time, a tool that allows you to talk about the most pressing contemporary problems. It is a particularly strong tool as, regardless of the subject, the very form of the CHORUS opens essential contemporary issues, connected with the human collective, community, the common voice and the conditions on which it can come into existence. The CHORUS's strength is always associated with the words it utters and the discourses it activates, while revealing their ideological framework. The idea is to ask the most difficult questions. I believe that a certain kind of tragedy, which can no longer be found in contemporary theatre, may be born when the CHORUS is on stage. That, through its radical political nature and strength, the CHORUS has both the political and the cathartic power. And I believe voice has revolutionary power.
Mein Traumtheater sieht wie ein Parlament aus. Nicht unbedingt wie der Bundestag, die Staatsduma, die Knesset oder wie dieser Saftladen in Ankara. Nein, mein Lieblingstheater gleicht in meinen Träumen eher einer Agora. Es ist ein zentraler Dorfplatz. Manchmal laut, manchmal still, manchmal zum Bersten voll, manchmal mutterseelenallein, aber immer chaotisch. Es ist vor allem ein Tummelplatz für alle. Ein Jahrmarkt, Festplatz oder Versammlungsort bei Naturkatastrophen. Wie gesagt, das ist nur ein Traum und ich bin realistisch genug um zu ahnen, dass ich so ein Theater in meinem jetzigen Leben nicht erleben werde. Wobei, die Hoffnung stirbt immer zuletzt. Welche gesellschaftspolitische Funktion übernimmt das Theater oder hat sie zu erfüllen, wurde ich gefragt und fragte mich: welche künstlerische Funktion übernimmt die Gesellschaft oder hat sie zu erfüllen? Ich meine damit, wie können wir dafür sorgen, dass unsere verknöcherten Denkstrukturen radikal in Frage gestellt werden? Wie können wir es schaffen, diese Fragen erst gar nicht zu stellen, die voraussetzen, dass es ein Innen und Außen gibt.
Ist Uniting Backgrounds ein optimistisches Vergemeinschaftungsszenario? Ist es, da es ja »uniting« heißt und nicht »united «, der Versuch einer »kollektiven Selbstbehauptung«, der nicht zwangsläufig nationalistisch, sondern auch internationalistisch, transnationalistisch, postnationalistisch ausfallen könnte, als solidarisches Projekt? Wenn das Theater auf komplexe Fragestellungen reagieren soll, so geht es mir weniger um jene berühmte »Kunst, etwas Komplexes in einfachen Worten zu sagen«, sondern vielmehr darum den Schwierigkeitsgrad zu erhöhen, wie Alexander Kluge das am Beispiel von Artisten erklärt hat. Es geht um den Vertrauensvorschuss, dass etwas Gemeinsames als radikale Inklusion gelingen möge. Vorahmung nenne ich dann das gemeinsame Erfinden, Spielen, Werden. Es bedeutet arglos zu sein, achtsam zu sein, sich zu begegnen, gemeinsam zu Handeln. Es kann misslingen. Aber um Erfolg oder messbare Resultate geht es nicht, mehr um Räume der Phantasie und die Geste des Neuanfangs.
Most of the time, theater participate in the production of social consensus that creates hegemony of certain social classes. Normative aesthetics created in this context prevent theater from asking the questions that could cause discordance of established social consensus. Theater is another place for reproduction of social domination – it's the place where the certain values are normalized. Who can understand the language we use in theater? Who do we want to communicate with, which social class is our target group? It can't be that we are not interested in social structure of our audience. We have heard so many times petty bourgeois critic accusation: »It's too simple, it's placative, it's pamphlet!«, trying to disqualify theatrical work not reproducing those »social values that have been forced upon us as a general interests, and theatrical language serving this purpose. But this scream is already a good sign – first defender of social consensus is already mobilized.