Die Rückkehr einer völkischen Partei, die Morde rechter Terrorist*innen, die Hetzjagden und Überfälle im ganzen Land – all das gibt es auch woanders und ist doch nur im Rahmen der spezifischen Realität einer postnationalsozialistischen deutschen Gesellschaft zu erfassen. Diese Geschichte übt einen Druck auf unsere Gegenwart aus.
Zugleich ist die Gesellschaft, in der wir leben, eine andere geworden. Das ist wahr für das Viertel der deutschen Bevölkerung mit Vibrationshintergrund, es ist auch wahr für all diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten zunehmend ihr Recht auf Anerkennung und Teilhabe einfordern. Wir sind auf dem Weg zu einer Gesellschaft der radikalen Vielfalt.
Aber die Vergangenheit erledigt sich nicht, weil die Zeiten sich ändern. Das gilt für die ästhetische Praxis ebenso wie für politische Kritik. Es braucht also beides: ein Bewusstsein für die Konturen der Gegenwart – und eines für die »Fluten«, aus denen wir mit dem Wort aus Bertolt Brechts An die Nachgeborenen »aufgetaucht« sind.
Im Versuch, diese Aufgabe zu bewältigen, scheint das Theater der Politik etliche nautische Meilen voraus. Vielleicht ist es gegenwärtig sogar der wichtigste Impulsgeber für gesellschaftliche Debatten, ein Labor für alternative Narrative, neue Modelle von Zugehörigkeit und die fortwährende Rekonstruktion eines Archivs wehrhafter Poesie.
Die Gesellschaft ist eine andere geworden. Das heißt, dass wir sie anders denken können. Aber die Gesellschaft steht auch unter dem Druck ihrer Geschichte. Das heißt, dass wir sie anders denken müssen. Gegenwartsbewältigung bezeichnet eine Perspektive, die diese Einsicht zur Grundlage politischer und ästhetischer Praxis macht.
Gegenwartsbewältigung, der Essay-Band von Max Czollek, ist am 17/August 2020 beim Hanser Verlag erschienen.