Die Stimme ist für mich das mächtigste Instrument im Theater
Das heutige Europa ist wie ein verfluchtes Haus aus einer antiken Tragödie. Mit ganz neuen Helden, neuen Breiviks und Trumps, und neuen Verbrechen. In diesem Haus hat sich ein alter Familiendämon eingenistet – und es ist möglich, dass er es nicht wieder verlässt, ehe er nicht seinen Blutdurst gestillt hat – erklärt Marta Górnicka in einem Interview für das Athens & Epidauros Festival.
George Mitropoulos: Wie hat deine europäische Trilogie begonnen?
Marta Górnicka: Als Erstes entstand eine Aufführung in Israel: „Mother Courage won't remain silent - a chorus for the wartime“ („Mutter Courage wird nicht schweigen. Ein Chor für die Zeit des Krieges“) mit israelischen Arabern und Juden und ihren Kindern sowie professionellen Tänzern – Soldaten der israelischen Armee. Über fünfzig Personen. Das Zentrum des Konflikts. Auf der Bühne standen Vertreter von Völkern, die gegeneinander Krieg führen, und bei der Arbeit mit dem Chor ging es darum, einen Raum zu schaffen, in dem ein Gegner nicht zwangsläufig ein Feind ist und ein Antagonismus nicht zum Tod als letztem Mittel der Konfliktlösung führen muss. Für mich bietet der Theaterchor eine Möglichkeit, mich mit schwierigen gesellschaftlichen Problemen auseinanderzusetzen, insbesondere in einer Situation, in der zwei Konfliktparteien auf der Bühne stehen – und das Israel-Projekt hat diese Dimension, diese Wirkungskraft des CHORS deutlich gemacht. Ein Jahr später feierte das Stück M(OTHER) COURAGE in Deutschland Premiere. In diesem Stück stellen Mütter die Frage: Warum will mein Sohn noch immer jemanden töten, woher kommt das? Der Neonationalismus war in Deutschland und Europa auf dem Vormarsch. Die Pegida-Bewegung formierte sich, in Dresden fand der Prozess um die sogenannten Döner-Morde an Türken in Deutschland statt, und in Paris verübten die „patriotischen Krieger“ der ISIS ein Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo. Der CHOR machte deutlich, dass man heutzutage kaum noch sagen kann, wer eigentlich der Feind ist, und er offenbarte eine zutiefst destruktive Sehnsucht nach Gemeinschaft.
Was ist die HYMNE AN DIE LIEBE? Wie sieht der Abschluss dieses Triptychons aus?
- Ich beende das Triptychon in Polen, einem zerstrittenen, geteilten und erschreckenden Polen. In HYMNE erscheinen 25 sehr unterschiedliche Personen auf der Bühne – sie unterscheiden sich hinsichtlich ihres Alters, ihrer Erfahrungen, ihrer ethnischen Herkunft und ihrer Weltansicht. Wir haben die Besetzung im Rahmen eines offenen Castings ausgewählt: professionelle Schauspieler, Performer, Amateure, Kinder, Senioren und Menschen mit Behinderungen. Es war außerordentlich wichtig, eine vielfältige Gemeinschaft zu schaffen – als Abbild einer inklusiven, offenen Gesellschaft, die vor unseren Augen verschwindet und von der Vision einer homogenen Volksfamilie verdrängt wird, die sich allen ANDEREN gegenüber verschließt. Unser Chor ist eine Herausforderung an den erstarkenden polnischen Nationalismus, der Unterstützung in der offiziellen Kultur- und Geschichtspolitik findet. Diese vielfältige Gemeinschaft singt, flüstert und schreit die HYMNE AN DIE LIEBE für Orchester, Kuscheltierchor und andere, konfrontiert mit Phrasen aus patriotischen Liedern, die einen kollektiven Körper bilden, der jegliche Vielfalt eliminiert und nach Einheit im Hass sucht – so entsteht eine berührende Spannung.
Ich erzähle von totaler Ungeduld, Frustration und Angst, die sich irgendwie entladen müssen. Über einen MARSCH-SCHREI, eine Hymne, die durch ganz Europa rollt.
Ein Europa, das seine Geschichte vergisst, ist dazu verdammt, schreckliche Verbrechen und Unterlassungen zu begehen. Diese Perspektive ist äußerst wichtig für mein Land, in dem eine kritische Auseinandersetzung mit äußerst schwierigen historischen Erfahrungen durch eine Ideologie des heroischen Opfertums verdrängt wurde, die heutzutage einen Nährboden für nationalistische Forderungen bietet. Deshalb ist der Rahmen, innerhalb dessen ich eine Aussage zur gegenwärtigen Flüchtlingskrise formuliere, das Bild eines KZ-Orchesters. Nur dass das Orchester dieses Mal nicht auf einer Rampe in Auschwitz spielt, sondern an einer Grenze, an einem Ort, an dem Europa „festlegt“ wer „sich dazu eignet“, hier zu leben, und wer dazu geeignet ist, vor den Toren des Paradieses zu sterben.
Das heutige Europa ist wie ein verfluchtes Haus aus einer antiken Tragödie. Mit ganz neuen Helden, neuen Breiviks und Trumps, und neuen Verbrechen. In diesem Haus hat sich ein alter Familiendämon eingenistet – und es ist möglich, dass er es nicht wieder verlässt, ehe er nicht seinen Blutdurst gestillt hat.
Als Material verwendest du Nationalhymnen, patriotische Lieder und Märsche. Dein Stück ist weniger eine Hymne an die Liebe als vielmehr eine Hymne an das, was uns trennt. Verwendest du dein musikalisches Material auf eine ironische Weise? Als einen sarkastischen Kommentar zu dem, was wir heute in Europa erleben?
- In Volksliedern und Märschen finden wir ein Element, das eine Gemeinschaft vereint, aber auch ein Element der Gewalt und des Todes. Der ekstatische Genuss des gemeinsamen Singens kann auch den Genuss des Eliminierens bedeuten. Die nationalen Rapper singen in ihren Ländern ihre eigenen HYMNEN AN DIE LIEBE. Der rechtsextreme Diskurs übt auf Menschen in ganz Europa eine große Anziehung aus. Hinter der Sprache von Religion und Nächstenliebe stehen Erklärungen wie „Ordnung zu machen“ und „die gemeinsamen Werte zu schützen“. Das Versprechen der „WAHRHEIT“. Sprache kann so faszinierend sein! Dem CHOR geht es darum, zu zeigen, wie mehrdeutig sie ist – der ideologische Rahmen kann trügerisch sein und gleichzeitig auf die Sprache wie auf eine Trommel einschlagen, portato und staccato! Ein kollektives Bewusstsein wecken.
Wir leben in einer Welt der Fundamentalismen und des Terrorismus. Wie können wir diesen Herausforderungen begegnen? Gibt es eine Antwort?
- In meiner Aufführung spielen Stofftiere die Rolle von Spezialisten für die Bekämpfung des Terrorismus und die Zukunft Europas. Sie sind die Experten für die Probleme der heutigen Welt, die Bedrohung durch Fundamentalismen und die Katharsis durch das Theater. Der aus Schauspielern bestehende CHOR bleibt stumm angesichts der ständig wachsenden Probleme. Ob es eine Antwort gibt? Ich suche weiterhin nach Antworten im SPRECHCHOR, im Performen von Sprache, im Entschärfen von Angst. Im Zeigen, dass der ANDERE nicht dort ist, wo ihn die Politik verortet. Im Performen des UNTERSCHIEDS zwischen uns.
„Letztlich geht es bei dem Kampf immer uns UNS – um die Zuschauer des Terrors, um jene, die sich diese Tötungen ANSCHAUEN“, sagt das Stoffschaf in HYMNE AN DIE LIEBE. Diesen Mechanismus verstehen Terroristen am besten. Und das müssen auch wir verstehen. Es geht um Angst.
Als Antwort auf diese Probleme und die zunehmende Flüchtlingskrise haben viele europäische Länder ihre Grenzen geschlossen und sich dem Populismus und Rechtsextremismus zugewandt. Hast du das Gefühl, dass Europa dunkle Zeiten bevorstehen?
- Das Prinzip, eine kollektive Identität zu schaffen, indem mal all jene, die nicht zu „UNS“ gehören, ausschließt, ist erneut zu einem politischen Schwungrad geworden, das von vielen Parteien benutzt wird – leider teilweise auch von jenen, die gerade an der Regierung sind. Ich rede hier von Polen und Ungarn, die den populistischen und nationalistischen Wettlauf im Augenblick anführen. Polen hat sich kategorisch geweigert, Flüchtlinge aufzunehmen, nicht einmal als eine symbolische Geste. Fast 80 Prozent der polnischen Bevölkerung unterstützen diese Haltung der Regierung. Und die Opposition spricht bereits dieselbe Sprache. Im Grunde gibt es innerhalb der maßgeblichen politischen Kräfte in Polen gar keine Opposition mehr. Und Europa? In gewisser Weise gibt es Europa, gibt es „uns“ nicht mehr.
Breivik und andere „Beschützer“ Europas schreiben ihre EUROPÄISCHEN UNABHÄNGIGKEITSERKLÄRUNGEN, in denen sie sich am GUTEN und an der WAHRHEIT orientieren. Terror und Extremismus gibt es heute auf beiden Seiten. Der CHOR demonstriert diese Mehrdeutigkeit, diese Unlösbarkeit. Anders Breivik erklärt, er sei der größte Terror und das größte Opfer des europäischen Terrors. Und er klagt an, der größte Terror und das größte Unrecht bestehen darin, dass die Demokratie ihn zum Nationalisten gemacht habe.
Polen ist ein ausgezeichnetes Beispiel für diese Situation. Die Polen werden immer nationalistischer. Was ist deine Meinung zur Haltung Polens?
- Die Polen haben – auf eine erschreckende Art und Weise – vieles aus ihrer eigenen Vergangenheit vergessen. Sie haben auch vergessen, dass man früher einmal uns Zuflucht gewährte. Dieses Vergessen, dieses Verdrängen ist für uns extrem gefährlich. Es ist die Grundlage für nationalistische Fantasien von einem edlen und aufopfernden Volk, das von Gott besonders geliebt wird. Die Religion besitzt in unserem Land keine spirituelle Dimension, sondern sie ist in erster Linie ein identitätsstiftendes und im Grunde nationalistisches Bindeglied. Das heutige Bündnis zwischen „Thron und Altar“ – zwischen weltlichen Herrschern und der Hierarchie der katholischen Kirche stellt eine Bedrohung dar – eine ideologische Schlinge, die sich immer enger zusammenzieht. Es gibt keine Sprache, die in der Lage wäre, sich diesen falschen Narrativen entgegenzustellen. Es ist viel leichter, zu glauben, das polnische Volk habe ein großes Herz und liebe alle Menschen, doch es darf niemanden hineinlassen, weil es sich um die eigenen Kinder kümmern muss. Also helfe es den Bedürftigen in deren Heimat und bewahre sich selbst seine Reinheit von allem, was anders ist. Dank der religiösen und nationalen Rhetorik merkt niemand, dass in dieser Geschichte die ANDEREN als Schmutz behandelt werden, der unsere rassische Reinheit gefährdet!
Wiederholt sich die Geschichte? Glaubst du, dass der Nationalismus siegen wird?
- Die Erinnerung der europäischen Gemeinschaft ist wie ein Videofilm. Man kann sie nachträglich bearbeiten, man kann auch leicht sämtliche Momente des Schneidens aus ihr herausschneiden. So, dass keine Spur mehr davon bleibt. Der Held des Comics „Maus – Die Geschichte eines Überlebenden!“, ein ehemaliger Häftling von Auschwitz, sagt, er könne sich nicht daran erinnern, es habe dort kein Lagerorchester gegeben. Wenn die Opfer sich nicht mehr erinnern, erinnert sich niemand mehr. Alle Völker sind schrecklich vergesslich! Und bekommen Hunderte von Likes dafür. Und die Toten?! Die haben keine Stimme! Das Theater ist für mich ein Ort des Sprechens. Und gleichzeitig der Entlarvung des Sprechens als einer Form des Schweigens. Ich betreibe mit dem CHOR eine Dialektik des Schreckens des Sprechens und des Schreckens des Schweigens. Ich zeige, wie wir uns mithilfe von Wörtern mit unserer Geschichte auseinandersetzen. Der CHOR ist eine Gemeinschaft, die diese Mechanismen demonstriert. Eben deshalb ist er heutzutage so außerordentlich erschreckend. Und so außerordentlich notwendig.
Die wichtigsten Instrumente deiner Aufführungen sind der CHOR und die menschliche Stimme. Wie verwendest du diese Instrumente? Und auf welche Weise helfen sie dir dabei, das auszudrücken, was du denkst?
- Die Stimme, ihre musikalische Verwendung – die Arbeit an Sprache mithilfe von Musik und den Stimmen der Performer – ist für mich das mächtigste Instrument im Theater. In der Stimme liegt Revolution. Seine Stimme „abzugeben“ ist gefährlich (Populismen), aber seine Stimme zu erheben kann ein Individuum und eine Gemeinschaft auch stärken und aufbauen. Es geht immer darum, eine Stimme zu finden.
George Mitropoulos
Athens&Epidauros Festival