Ong Keng Sen

ZU SICH KOMMEN UND AUS SICH HERAUSGEHEN
Porträt Ong Keng Sen
Foto: Esra Rotthoff

Ong Keng Sen ist Bürger des Stadtstaates Singapur. Überall auf der Welt versucht er, Menschen und Ideen aus allen vier Himmelsrichtungen zusammenzubringen. Nicht nur im Theater.

Wir unterhalten uns über einen Videochat. Wo sind Sie?
Ich bin in Seoul. Ich inszeniere hier Die Troerinnen. Aber bevor ich mit der Arbeit anfangen kann, sitze ich erst einmal 14 Tage in Quarantäne. Sie erwischen mich also nicht bei Freund*innen oder in einem Hotelzimmer meiner Wahl, sondern in einem, das die Behörden mir zugewiesen haben. In Asien geht man mit Corona ganz anders um als in Europa. Es gibt ein sehr strenges Regiment und das Ziel sind null Infektionen. Kontrolle ist alles. Bei Ihnen wird gegen die Anti-Corona-Maßnahmen demonstriert. Das ist hier undenkbar. Dafür aber hat man das Virus deutlich besser im Griff.
 
Ihre Eltern kamen aus China. Wann kamen sie nach Singapur?
Sie kamen jede*r für sich. Sie waren Teenager, noch nicht verheiratet. Nach dem Zweiten Weltkrieg, wohl um 1946, also noch vor der Gründung der Volksrepublik China im Oktober 1949. Sie kamen von einem Dorf in Südchina in der Nähe des Meeres. Darum hörten sie stärker dessen Ruf als den des Landesinnern. Mein Vater war Kaufmann. Aber er konnte nicht nur seinen Heimatdialekt, sondern auch Mandarin und er war ein guter Kalligraph. Meine Mutter sprach nur ihren Dialekt und kein Mandarin.
Wir lebten in sehr einfachen Verhältnissen. Mein Vater verstand sich auf Buchhaltung, aber er war ein schlechter Geschäftsmann. Er ging bankrott, rappelte sich wieder auf, ging wieder bankrott. Meine Mutter war die Starke, die Lebenstüchtige. Sie organisierte den Haushalt, lieh sich Geld, sorgte dafür, dass wir überlebten. Mein Vater dagegen träumte von unserer Zukunft. Beide sorgten dafür, dass alle Kinder eine gute Ausbildung bekamen. Wir sollten, so fand mein Vater, Englisch lernen, die damalige Weltsprache, die Sprache der Zukunft. Er hatte keine Angst davor, dass wir uns dadurch kolonisieren lassen würden. Er sah es als Möglichkeit der Befreiung. Mein buddhistischer Vater führte uns alle in englischsprachige, methodistische Missions-Schulen. Wir alle haben studiert und gute Abschlüsse.
 
Eine erfolgreiche Immigrationsgeschichte.
Wenn ich mich mit Deutschtürk*innen der zweiten Generation unterhalte, kommt mir vieles sehr vertraut vor.
 
Was bedeutet Ihr Familienname Ong?
Es ist die südchinesische Fassung von Wang und bedeutet so viel wie »König«, ein sehr häufiger Name in China. Keng Sen heißt »Vision of Life« (Lebensvorstellung).
 
Woher wussten Ihre Eltern, was Sie einmal machen würden?
Sie wussten es wohl nicht. Aber der Name sagt etwas aus über die Träume meines Vaters. Mit der Zeit bin ich in diesen Namen hineingewachsen.
 
Sie schreiben immer wieder, wie wichtig es Ihnen ist, den Augenblick ernst zu nehmen, wirklich in ihm zu sein.
Ich mag die Unmittelbarkeit dessen, was ist. Ich fühle mich wohl auch in den Spannungen und Schwierigkeiten, ich fühle mich lebendig darin. So bin ich, glaube ich, auch beim Theater gelandet. Das ist immer live. Alles darin ist Gegenwart. Auch wenn es alte Texte sind. Auf dem Theater leben sie.
 
Corona bricht die Kommunikation ab. Wir bewegen uns kaum noch. Alles ist wie gefroren.
Corona trifft mich nicht unvorbereitet. 2018 bis 2019 lebte ich in Berlin und schrieb an einer Dissertation. Ich kannte nur meinen Schreibtisch und die Bibliothek. Diese Erfahrung hat mich stark verändert. Am Theater sind Sie immer mit anderen Menschen zusammen. In der Bleibtreustraße entdeckte ich, wie wichtig es ist, bei sich selbst zu sein. So war ich auf die Lebensbedingungen unter Corona bestens vorbereitet. In dieses Alleinsein bin ich inzwischen gewissermaßen philosophisch hineingewachsen. Einerseits liebe ich die Unmittelbarkeit des Austauschs mit anderen, andererseits aber genieße ich es inzwischen auch, allein zu sein.
 
In den 90er Jahren wurden Sie zu einem großen Theaterregisseur. Ihre Shakespeare-Inszenierungen, in denen sich westliche und östliche Theatertraditionen verbanden, zeigten, wie Ost und West zusammenfinden konnten, zeigten Wege zu einem Theater im Zeitalter der Globalisierung.
Es waren Schritte aus der postkolonialen Situation in die Gegenwart. Dazu gehört aber auch ganz zentral die Infragestellung der Rolle der*s Regisseur*in. Er*sie musste seiner Guru-Stellung beraubt, musste von ihr befreit werden. Wir wollten weg davon, wir wollten auch raus aus dem Theater, aus der Fokussierung auf diese kleine Gemeinde von Spieler*innen und Zuschauer*innen, aus dieser Echokammer, diesem Universum mit seinen ganz eigenen Gesetzen. Einerseits also ging es um die Erweiterung des Horizontes, damit auch um die Vergrößerung der eigenen Rolle, andererseits aber genau dadurch auch um ihre Verkleinerung. Ein Prozess von Dekonstruktion und Konstruktion.
 
Und wo stehen Sie heute?
Ich inszeniere weniger. Mich interessieren mehr die Proben als die Aufführung. »It’s Showtime!« ist mir nicht mehr so wichtig. Der Prozess, der Weg ist das Ziel. Darum bewege ich mich schon lange nicht mehr nur in Theatern, sondern überall dort, wo über unsere Lage nachgedacht wird. Die Globalisierung zwingt jede*n an seiner*ihrer Stelle zu einer Veränderung der eigenen Arbeit. Mich hat sie ein Stück herausgetrieben aus ihr und mich hineingestellt in die globale intellektuelle Auseinandersetzung, in der wir versuchen, die Welt von heute zu verstehen. Ich arbeite daran, möglichst viele solcher Orte zu schaffen.
 
Wie zum Beispiel den Gorki KIOSK? Das Ladenlokal befindet sich an der Rückseite des Theaters in der Dorotheenstraße 3.
Zur Zeit ist er nur als Kassenraum geöffnet, während das Theater geschlossen ist – wie alle Theater in Deutschland und in vielen anderen Ländern der Welt. Was genau wir im KIOSK machen werden, entwickelt sich gerade. Es wird abhängen vom kleinen Virus und von unserer Fantasie. Es geht mir immer darum, dass wir uns darin üben, hinauszutreten aus unserer Welt, nicht um uns in eine andere zu integrieren, sondern um uns mit den anderen, die aus ihren Welten hinaustreten, in dritten Räumen zu treffen, die wir erst durch unsere Begegnungen geschaffen haben. So etwas könnte der KIOSK sein, so etwas sollte er sein. Was er wird, hängt ab von denen, die sich in ihn hineinbegeben.
 
Ist der KIOSK auch so etwas wie eine Fortsetzung der Young Curators Academy vom Oktober 2019?
Das wäre schön. Damals kamen 14 Tage lang mehr als 30 junge Kurator*innen zusammen, die alle – oft unter schwierigen Bedingungen – in ihren Ländern an der Schnittstelle von Kunst und Aktivismus arbeiten. Dieser Austausch half ihnen, die eigene Arbeit zu reflektieren, sie in einem weltweiten Zusammenhang zu sehen. So etwas sollte der KIOSK auch leisten. Auf verschiedenen Ebenen und an verschiedenen Stellen. Wir wollen hinaus aus den Beschränkungen unserer Lage, aus den Schubladen, in die wir geboren wurden. Wir wissen heute: Wir müssen hinüber schauen zu den anderen, um zu begreifen, wie wir leben, ja wer wir sind. Das Maxim Gorki Theater reißt die Fenster auf, stößt Mauern um, hilft uns, Dinge, Menschen, Situationen, Beziehungen zu sehen, die wir noch nicht sahen. Der KIOSK wird diese Arbeit erweitern.
 
Wie verträgt sich das mit Ihrer Freude am Alleinsein?
Das Theater ist ein Ort intensiver, intimer Begegnungen. Während einer Produktion kommen wir einander sehr nahe. Dann sehen wir uns ein paar Jahre lang nicht. Kaum spielen wir wieder miteinander, ist die Nähe wieder da. Die wenigsten Menschen leben so. So viel Intensität in so kurzer Zeit mit so vielen Menschen. Das ist anstrengend. Irgendwann wird einem die Ruhe wichtig. Man möchte nicht immer Neuem nachjagen, sondern interessiert sich für das, was bleibt. Mir wird die Beschäftigung mit mir selber immer wichtiger. Ich bin kein Nachrichtenjunkie mehr. Ich bin auch nicht mehr dauernd damit beschäftigt, etwas zu tun. Im Englischen heißt nichts no-thing, also kein Ding. Ich versuche, keine Dinge zu produzieren. Wir haben schon so viele von ihnen. Wir sind daran gewöhnt, uns zusammenzutun, um etwas zu schaffen. Es wäre gut, wir kämen mehr einfach so zusammen. Das können wir aber erst dann, wenn wir uns selbst gefunden haben. Aus-sich-herausgehen. In manchen Situationen im Leben eines Einzelnen, einer Gesellschaft oder gar der Welt läuft es auf dasselbe hinaus.

Interview: Arno Widmann

GORKI KIOSK

Zurück zum Spielzeitheft #22

Spielzeitheft zum Download (pdf)