Drei Schauspielerinnen, drei Generationen: Aysima Ergün, Sesede Terziyan und Sema Poyraz sprechen darüber, wo sie gerade stehen.
Fangen wir mit Ihnen an, Sema Poyraz. Sie haben etwas zu feiern. Vor 40 Jahren kam Ihr erster Film heraus. Gölge - Der Schatten hieß er. Er war der erste deutsch-türkische Film Deutschlands.
SP: 40 Jahre ist das her? Es war meine Abschlussarbeit an der deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin. Gemeinsam mit meinem griechischen Kommilitonen Sofoklis Adamidis, eine Koproduktion der Akademie mit dem Sender Freies Berlin.
Sesede Terziyan, Sie kamen ein Jahr später in Nordenham in Wesermarsch zur Welt und Sie, Aysima Ergün, 1994 in Berlin. Sema Poyraz, Sie wurden 1950 in Zonguldak an der türkischen Schwarzmeerküste geboren. Sema, erzählen Sie doch bitte etwas über den Film.
SP: Ich kann mich kaum noch an ihn erinnern. Es war der erste Spielfilm der Akademie. Die meisten Absolvent*innen arbeiteten damals dokumentarisch. 80 Prozent des Films spielen in einer Wohnung, die wir selbst bis ins kleinste Detail aufgebaut hatten. Von Technik hatte ich damals keine Ahnung und auch heute noch immer nicht viel mehr. Sofoklis machte die Kamera, meine Schwester spielte die Hauptrolle und der Rest waren alles meine Freund*innen. Laien.
1976 spielten Sie schon mit in Helma Sanders-Brahms’ Film Shirins Hochzeit. Ein Film, den ich damals voller Begeisterung gesehen hatte.
SP: Urzeiten her. Ich studierte damals Regie an der Filmakademie und machte die Schauspielerei nur, um Geld zu verdienen. Das war bitter nötig, denn für Migrant*innenkinder gab es damals kein Stipendium. Im Fernsehen gab es erste Serien, in denen Türken vorkamen. So schlitterte ich dann ins »Fernsehgeschäft«. Vor allem aber habe ich Jahrzehnte lang als Sozialarbeiterin gearbeitet. Wir wollten die Welt retten. Irgendwann merkte ich, dass die anderen Gastarbeiter*innen sich mit dem hier verdienten Geld Häuser in der Türkei kauften und ich wusste immer noch nicht, wie ich meine Miete bezahlen sollte.
In Gölge – Der Schatten kommt der Satz vor: »Wenn du jetzt in die Türkei gingest, wüsstest du nicht, ob man dich am Leben ließe.«
SP: Wir hatten alle zehn Jahre eine Militärdiktatur.
Muss man sich nicht heute wieder dieselbe Frage stellen?
SP: Irre. Ich werde jetzt oft von Doktorand*innen interviewt als die erste Filmemacherin türkischer Herkunft. Die kennen den Film alle besser als ich. Ich habe ihn ja seit damals nicht wieder gesehen. Vor ein paar Jahren wurde ich gefragt, ob ich nicht mal wieder einen Film drehen wollte. Meine Antwort war: Die Seite meines Lebens ist vorbei. Ich kann nicht mehr. Ich will auch nicht mehr.
Sie, Aysima Ergün, haben dieses Jahr Ihr Schauspielstudium abgeschlossen, haben ein Engagement im Gorki bekommen, sind zwei Mal in Yael Ronens Stück Death Positive – States of Emergency aufgetreten und dann kam Corona. Ist das nicht schrecklich?
AE: Nein, als »schrecklich« würde ich das nicht bezeichnen. Es ist ein riesiges Privileg in dieser Zeit ein Engagement zu haben oder auftreten zu dürfen. Ich denke immer wieder an viele meiner Kolleg*innen, die nicht dieses Privileg haben und bin einfach dankbar. Also, dass der zweiten Lockdown kam, darüber werde ich ganz bestimmt nicht meckern.
Sie haben nicht das Gefühl, dass Corona Ihnen Ihr Leben klaut?
AE: Corona hat meinem Leben nichts geklaut, sondern Dinge hinzugefügt. Natürlich ist das eine schwere Zeit und ich möchte nicht kleinreden, was für ein Kampf diese Pandemie ist. Trotzdem versuche ich, das Gute in dieser Situation zu sehen, zum Beispiel dankbar zu sein für das, was wir haben oder zu verstehen, dass wir die Verantwortung für diese Welt tragen. Manchmal mache ich mir einen Spaß daraus und denke: Wenigstens habe ich jetzt etwas, dass ich eines Tages meinen Kindern erzählen kann. Ich denke nicht, dass ich vorher etwas zu erzählen hatte, was die gesamte Welt betraf.
Sie krempeln sich die Ärmel hoch, und auf in den Kampf?
AE: Natürlich ist das ein Kampf, cool zu bleiben. Ich muss mir das ja auch laut sagen, dass ich von Corona mehr kriegen werde, als es mir nimmt. Man will etwas erlebt haben. Man will doch Leben leben.
Ich dachte: Schauspieler*innen sind Menschen, die viel erleben wollen, ohne etwas durchmachen zu müssen. Sind Sie deshalb Schauspielerin geworden?
AE: Ich denke schon. Aber was weiß ich? Ich bin seit zwei Monaten Schauspielerin.
Sesede Terziyan, haben Sie noch immer das Gefühl, dass Sie überall auf der Welt zuhause sein könnten?
ST: Ja.
Sie sind verheiratet, haben ein Kind?
ST: Ja.
Und noch immer keine Heimat?
ST: »Heimat« – das beschränkt mich. So nehme ich mich nicht wahr. Diese dämlichen Debatten, bei denen es um Grenzen, um besetzte Gebiete geht, um internationale Anerkennung! Menschen identifizieren sich damit, kämpfen dafür, opfern ihre Kinder! Das nervt mich mehr noch als früher. Vielleicht weil ich jetzt Mutter bin. Es ist ganz egal, was das für Kinder sind – hier vor der Haustür oder im Lager Moria auf Lesbos: Sie könnten alle meine Kinder sein.
Ein sehr verwegener Gedanke.
ST: Was ist daran verwegen? Sie könnten alle meine Kinder sein. Es ist doch der pure Zufall, dass ich hier gelandet bin. Ich bin auch ein Flüchtlingskind. Wenn meine Eltern nicht als politische Flüchtlinge anerkannt worden wären, wäre ich nicht so aufgewachsen, wie ich es bin. Das ist doch alles austauschbar. Mich hätte auch ein ganz anderes Schicksal treffen können. Mich nimmt das alles sehr mit. Es zwingt mich in die Knie. Es sind immer dieselben Geschichten, immer diese Aggressivität. Warum kommen wir nicht drüber hinaus? Was findet da in unserer Evolution nicht statt? Das ist doch zum Verzweifeln! Da hilft mir wieder das Muttersein: Ich muss kochen, waschen, das Kind zu Bett bringen. Ich habe einen ganz strikten Tagesablauf, der es mir nicht erlaubt, mich fallen zu lassen… Und natürlich die Liebe.
Aysima Ergüns Agentur beantwortet die Frage »Wo könnte sie leben und arbeiten?« mit »Berlin, Frankfurt am Main, Istanbul und Izmir«. Das ist fast schon das Gegenteil von Sesede Terziyans »überall auf der Welt«.
AE: Übrigens gehört da auch noch Hamburg rein.
Aber das ist doch verdammt wenig.
AE: Wenig? Das ist doch viel zu viel. Ich kann in Wahrheit wahrscheinlich nirgendwo anders leben als in Berlin. Diese Orte habe ich genannt, weil ich ein paar Orte nennen musste und dort habe ich Freund*innen, mit denen ich schon ein paar Tage verbringen würde. Aber nicht Monate oder gar den Rest meines Lebens.
Und Sie, Sema Poyraz?
SP: Meine Vorfahr*innen flüchteten um 1870 aus Bulgarien in die Türkei. Meine Mutter kam aus Zonguldak, das war gewissermaßen das Ruhrgebiet der Türkei, mein Vater aus Istanbul. Dort lebten wir, dann bis ich elf, zwölf Jahre alt war. Ich wuchs auf mit Türk*innen, Griech*innen, Armenier*innen, Bosnier*innen. Kurd*innen kannten wir keine. Heute ist das in Istanbul anders. Aus dieser multikulturellen Millionenstadt kam ich dann in eine süddeutsche Kleinstadt in der Nähe von Stuttgart! Später habe ich auch in England gelebt.
Sesede Terziyan, Ihre Eltern kamen nicht als Gastarbeiter*innen, sondern als politische Flüchtlinge.
ST: Meine Eltern waren 1980, ein paar Monate vor dem Militärputsch in der Türkei, als politische Flüchtlinge nach Deutschland gekommen und wurden an die Nordsee verfrachtet. Als politische Flüchtlinge durften sie nicht arbeiten. Das taten sie dann schwarz. Mein Vater war ein stolzer Mann. Er wollte nicht von Stütze leben. Er tat alles: Er arbeitete auf der Werft, auf Bauernhöfen, in der Molkerei, schnitt Haare. Alles illegal. Meine Mutter hatte in der Küche ihre Nähstube. So kamen sie über die Runden. Aber sie wollten legal arbeiten. Also klagten sie auf die Anerkennung als Gastarbeiter*innen. Die bekamen sie dann. Wir lebten lange mit der gepackten Tasche auf dem Flur, für den Fall, dass wir wieder einmal wegziehen müssten. Wir haben uns nicht mit dem Land identifiziert, in dem wir lebten, auch nicht mit dem Beruf, den wir hatten. Wir lebten in der festen Überzeugung, das könne man uns alles wieder nehmen. Mein Opa sagte immer: Wichtig ist, was du im Kopf und im Herzen hast. Und deine Hände müssen funktionieren. Dann kannst du dir alles erarbeiten.
SP: Ich lebte in Schorndorf. Wo bist du denn aufgewachsen?
ST: Zuerst am Deich, dann kam ich ins Schwabenland, habe in Backnang, 30 Kilometer von Schorndorf entfernt, mein Abitur gemacht.
SP: Ach Gott!
ST: Ich bin trotzdem mehr Fischkopf als Schwäbin.
SP: Die Lehrer*innen verbaten meinen Mitschüler*innen, mit mir schwäbisch zu sprechen. So lernte ich gleich Schriftdeutsch. Mein Vater war Trainer. Er kam nach Schorndorf, um im Verein Ringen zu unterrichten. Meine Mutter wollte zunächst nicht mit nach Deutschland. Sie hatte einen guten Job als Bankangestellte. Dann blieb sie 20 Jahre. Sie liegt hier auf dem Friedhof in Gladow. Mein Vater bei seiner Familie in Istanbul.
ST: Das kenne ich. Auf dem armenischen Friedhof in Ankara stand ich vor dem Grab meiner Großmutter. Auf dem Grabstein stand Sesede Terziyan …
SP: Ich habe etwas getan: Ich habe Erde aus Istanbul mitgenommen und hier auf das Grab meiner Mutter gelegt und Erde von hier mit in die Türkei genommen und auf das Grab meines Vaters gelegt. Dabei bin ich Atheistin. Ich glaube an gar nichts. Aber solche Rituale mag ich. Sie tun mir gut.
Sie sitzen da, hören sich das an und denken: Die kommen wieder mit ihren alten Geschichten und ich habe nur Corona.
AE: Was heißt hier nur Corona. Das ist eine riesige Pandemie. Die lasse ich mir nicht von Ihnen kleinreden. Aber mir ist völlig schleierhaft, wie man sagen kann, dass man überall leben könne. Wir werden doch hier schon so gelabelt. Wie wäre das erst anderswo? Mich interessiert überhaupt nicht, irgendwann einmal hier oder dort zu leben. Ein Auslandsjahr! Eine schreckliche Vorstellung! Dafür bin ich viel zu scheu oder auch zu ängstlich.
SP: Aysima, wo kommen deine Eltern her?
AE: Aus Samsun am Schwarzen Meer, berühmt als Stadt der Amazonen.
Was machen Ihre Eltern?
AE: Meine Mutter leitet einen Pflegedienst und mein Vater ist Rikschafahrer für Tourist*innen. Ihr habt ihn bestimmt schon gesehen. Er hat einen Cowboyhut auf und meistens einen Bart wie ein Weihnachtsmann.
Wie kamen Sie zur Schauspielerei?
AE: Durch das Stück Verrücktes Blut, hier am Gorki. Zuerst war ich entsetzt. Ich wollte gehen, weil jemand im Stück den Islam beschimpfte. Sie müssen verstehen, ich hatte keine Ahnung vom Theater damals. Meine Freundin zerrte an mir, überredete mich sitzen zu bleiben und ich blieb sitzen. Zum Glück. Als das Stück zu Ende war, wusste ich: Das will ich machen! Es war das erste Mal, dass ich mich selbst auf einer Bühne vorstellen konnte.
Sind Ihre Eltern religiös?
AE: Ja, meine Mutter.
Es gibt einen Gott, der sich um Sie kümmert?
AE: Ich glaube schon: Da ist etwas. Etwas, das eine Verbindung hat mit allem. Nennen Sie es Gott, die Natur oder Allah. Das ist mir relativ gleichgültig.
Interview: Arno Widmann