Die Lust aufs Leben

EDITORIAL


Das Gorki ist zu. Fürs Publikum, für Sie also, denen das Theater gehört und für die wir arbeiten. Hinter den geschlossenen Türen aber haben wir weitergemacht. Wir haben uns dabei strikt an die Vorschriften gehalten. Wir haben, wie unser Publikum es von uns gewohnt ist, auch neue Formen des Theaters ausprobiert. Sehen Sie sich dazu Alles unter Kontrolle von Oliver Frljić und Ensemble an, wenn wir wiedereröffnen. Solange bieten wir Ihnen auf unserer Website Aufzeichnungen der Premieren dieser Saison im Gorki Stream an.
Auch diese Ausgabe unseres Spielzeitheftes ist unter Corona-Bedingungen entstanden. Arno Widmann, den wir als Hausphilosoph gewinnen konnten, interviewte – meist per Videochat – von Ende November bis Anfang Dezember 18 Mitarbeiter*innen an dieser Spielzeit des Gorki für dieses Heft. Die jüngste ist 19, die älteste 82. Sie kommen aus Israel, Kroatien, Polen und der Türkei, aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Großbritannien, aus Singapur und dem Iran. Regisseur*innen, Schauspielerinnen, Autor*innen. Im Theater wird viel über Konzepte gesprochen und gestritten. Aber wir wissen natürlich: Es lebt von den Menschen. Sie stellen wir in diesem Heft vor. In Interviews und durch die Fotos, die Esra Rotthoff via Bildschirm von ihnen machte.
Das Gorki lebt – wie wir alle – davon, dass die unterschiedlichsten Lebenserfahrungen aufeinander treffen. Sie sind unser Lebenselixier. Immer wieder werden diese Begegnungen und Auseinandersetzungen auf der Bühne des Gorki verhandelt. Ohne sie wären wir ärmer und unendlich viel dümmer. Das Gorki arbeitet an Grenzüberschreitungen in der Kunst und im Leben. »Schließlich bin ich nicht binär«, erklärt Hengameh Yaghoobifarah in diesem Heft. Wo immer Menschen vor die Wahl »entweder – oder« gestellt werden, läuft etwas schief. Jede, jeder von uns ist viele. Das ist zuweilen unheimlich. Manchmal haben wir Angst davor. Das Theater aber ist ein Mutmacher. Wir erproben neue Wirklichkeiten oder auch einmal alte, um zu sehen, ob etwas in ihnen steckt, das wir heute brauchen können.
Wie können wir wenigstens ein klein wenig von dem, wonach wir uns sehnen, in unseren eigenen dazu nicht recht passenden Strukturen – also immer auch gegen sie – verwirklichen? Diese Frage treibt uns hier alle um.
Während die große Politik sich die Geflüchteten vom Leib zu halten versucht, bleibt die winzige Gorki-Gesellschaft offen, für Schauspieler*innen aus Syrien und Palästina Im Gorki-Ensemble und für ein Futureland mit geflüchteten Minderjährigen im Gorki CONTAINER. Zehra Doğan, kurdische Künstlerin und Aktivistin im europäischen Exil, wird Ihre in Gefängnissen entstandenen Arbeiten im Gorki KIOSK ausstellen, in dem wir den Berliner Herbstsalon weiterdenken. Der im Berliner Exil lebende türkische Journalist Can Dündar hat eine Kolumne am Gorki und bereitet ausgehend von seiner Zelle im Hochsicherheitsgefängnis Silivri eine Installation im Studio des Gorki vor.
Das Theater, darin sind sich alle Befragten in diesem Heft einig, ist unser Instrument, um die Wirklichkeit zu begreifen. Jede und jeder verwendet es anders, nutzt andere Sprachen und Spielweisen. Marta Górnicka erfand das chorische Theater vor zehn Jahren neu und jetzt in der Pandemie muss sie noch einmal alles ändern. Es ist eine, ihre ganze bisherige Arbeit in Frage stellende, Herausforderung. Sie stellt sich ihr. Mit Freude und mit Freund*innen des Political Voice Institute. Yael Ronen erforscht mit dem Ensemble immer gleichzeitig die Welt da draußen und wie sie sich in unsere Körper und Geister einprägt. Aber Yael Ronen möchte nicht nur erkennen. Glücklich wäre sie erst,
wenn sie uns nicht nur erfreuen, sondern auch heilen könnte.
Verwegene Fantasien? – Aber was wäre das Theater ohne Fantasie, ohne Verwegenheit? Wir müssen uns wenigstens einbilden können, in der Welt etwas zum Besseren zu bewegen, sonst kommen wir morgens nicht aus dem Bett. Der Widerstand gegen die ungerechte Einrichtung der Welt verbittert uns nicht. Er steigert unsere Lust aufs Leben. Daran hat auch das Virus bis heute nichts geändert.
Im Namen aller Mitarbeiter*innen des Gorki, die nicht in ein Heft passen würden, wünsche ich Ihnen Gesundheit und uns Ihre Lust zu lesen.

Ihre
Shermin Langhoff
 

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