Brief zum Spielzeitauftakt, 18. August 2022

 

Sehr geehrte Theaterliebhaber*innen, liebe Gorkifreund*innen, verehrte Kritiker*innen,

ich schreibe Ihnen von der Insel Leros, eine Insel in allen Tönen Blau, die, wie auch die anderen Dodekanes-Inseln 1923, vor fast 100 Jahren – nach vier Jahrhunderten osmanischer Herrschaft an das Königreich Italien überging. Mussolini wollte mit den Inseln seine Vormachtstellung in der Ägäis sichern. Davon zeugt noch heute der Hafenort Lakki mit seiner rationalistischen Architektur. Nach der italienischen Kapitulation waren es Hitlers Truppen, die nach einer blutigen Schlacht 1943 die Insel von den Briten zurückeroberten und zwei Jahre besetzten. Erst 1947 ging die Insel endgültig in den Besitz des Königreichs Griechenland über. Ab 1947 wurden hier aber nicht etwa die Kinder der Faschisten, sondern die kommunistischer Partisanen in sogenannten »Kinderdörfern« umerzogen.

Später war Leros neben Gyaros und Ikaria eine der ägäischen Inseln, die der griechischen Militärjunta von 1967 bis 1974 als Verbannungsorte dienten. Kommunist*innen, Anarchist*innen und andere Oppositionelle wurden dorthin verbracht.

Jannis Ritsos war in den Jahren 67/68 einer von ihnen. Er war neben Giorgos Seferis und Odysseas Elytis einer der drei großen griechischen Lyriker des 20. Jahrhunderts. Er war aber auch ein kommunistischer Genosse des türkischen Dichters Nâzım Hikmet, dem er eines seiner schönsten Gedichte widmete. Vor vielen Jahren schon hatte ich es kennengelernt, auf Türkisch:

»...Nâzım kardeşim
mavi gözlü Nâzım
mavi yüreğin
ve daha da mavi düşlerinle
sen ki karanlığa derin derin
baktığın zaman
en ufak bir kin duymadan
karanlığı bile mavileştirirsin
Nâzım«

»… Nâzım mein Bruder
Nâzım mit den blauen Augen,
wenn Du mit Deinem Herzen blau
und Deinen noch blaueren Träumen
tief in das Dunkle schaust
ohne das geringste Gefühl von Hass
vermagst Du selbst das Dunkle ins Blau zu verwandeln
Nâzım«

Heute scheint die Insel – auch wegen der Nähe zur türkischen Küste – wohl ein Exil für oppositionelle Intellektuelle aus der Türkei geworden zu sein. Ich traf hier binnen weniger Tage ein Dutzend Frauen und Männer aus Medien und Wissenschaften. Keine Kommunisten, wie Nâzım und Jannis es gewesen waren.

Eher Liberale, die zwar zu Erdoğans vorgeschlagener Verfassungsreform meinten, sie reiche nicht aus, aber dennoch Ja zu ihr sagten, die Entmachtung des Militärs im Blick. Andere Oppositionelle boykottierten die Wahl vor über einer Dekade und wieder andere, zum Beispiel auch Can Dündar, der Gorki-Gastkolumnist, sagten Nein zu Erdoğans Verfassung.

Die Exilant*innen aus der Türkei unterscheiden sich natürlich noch in vielen anderen Fragen. Nicht nur hier auf Leros, sondern auch in Berlin.

Gemeinsam ist freilich allen, dass sie weiter publizieren, dass sie an das Ende des Erdoğan-Regimes glauben. Sie hoffen, das könnte schon mit den Wahlen im Juni 2023 eintreten. In wenigen Wochen, am 9. September 2022, jährt sich der Brand von Smyrna, den Eugenides in seinem Roman Middlesex so eindrücklich beschreibt. Einhundert Jahre nachdem die türkische Republik mit so viel Blut unschuldiger Menschen gegründet wurde, sitze ich hier mit intellektuellen Türk*innen, mit armenischen und kurdischen Freund*innen »maviye kavuşarak«. »Das Blau umarmend« heißt das. Das Blau des Himmels und des Meeres. Mit diesen Freund*innen glaube ich trotz allem, aus Trotz gegen alles, an eine schönere Zukunft. Wie es auch Generationen vor uns getan haben.

Neben vielen anderen tun das mit mir auch die Berliner Exilant*innen Can Dündar und Zehra Doğan – letztere seit der Spielzeit 2021/22 Artist in Residence am Gorki. Sie kennen sie aus ihrer Einzelausstellung prison no.5 im Rahmen des 5. Berliner Herbstsalons oder aus der Art Review, die sie in den vergangenen Jahren regelmäßig zu den 100 einflussreichsten Künstler*innen der Welt zählt.

Wir haben uns auch auf Leros getroffen. Gemeinsam arbeiten wir an einer Begegnung mit Ihnen. Wir bereiten das Festival GEZI – 10 Years later vor, das zehn Jahre nach den Gezi-Protesten, vom 28. Mai bis zum 18. Juni 2023, im Gorki stattfinden soll.

Im kuratorischen Beirat des Festivals sitzen Can Dündar, Zehra Doğan, Peter Steudtner, Deniz Yücel und Aslı Erdoğan. Letztere war Physikerin und politische Gefangene. Sie ist Menschenrechtsaktivistin, eine vielgepriesene Schriftstellerin und sie lebt wie alle Vorgenannten in Berlin. Im Exil also.

In der kommenden Spielzeit ist Aslı Erdoğan mit einem »Weltoffenes Berlin« Stipendium des Senats auch Artist in Residence am Gorki. Fünf Bücher sind von ihr auf Deutsch erschienen. Sie hat Luk Perceval bei seiner »Korrektur« von Mozarts Entführung aus dem Serail geholfen. Auf YouTube kann man den Regisseur über seine Zusammenarbeit mit Aslı Erdoğan hören. Im Herbst wird ihr neuer Roman Requiem für eine verlorene Stadt auch auf Deutsch erscheinen. Dessen erste Lesung und Vorstellung erwartet Sie dann alle im Gorki.

Gemeinsam ist den Genannten nicht nur das Exil, sondern damit untrennbar verbunden, dass sie Familien und Freunde in der Türkei zurücklassen mussten. Kinder, Geschwister, Eltern. Darunter alte gebrechliche Mütter um die neunzig, die auf Ihre längst selbst ergrauten Kinder warten. Viele der Exilierten treffen heute Freunde und Verwandte auf den der Türkei vorgelagerten griechischen Inseln. Auch hier auf Leros. Augenblicke großen Glücks für die politisch Verfolgten, wie für die in der Türkei Gebliebenen.

Unser Freund Osman Kavala sitzt bald schon fünf Jahre unschuldig im Hochsicherheitsgefängnis Silivri. Er soll, wenn es nach Erdoğans Willen geht, sein Leben lang nicht freikommen. Auch Osman Kavala hat eine über 90-jährige Mutter, die nicht darauf zählen kann, ihren Sohn wieder in den Arm zu nehmen. Mit Osman Kavala wurden sieben Weitere, unter anderem meine Kollegin, die Filmproduzentin Çiğdem Mater, verurteilt. Zu achtzehn Jahren. Sie habe, so lautet das Urteil, den Gezi-Park-Protest maßgeblich mitorganisiert.

Ihre Mutter, eine 68erin, die selbst im Gefängnis gesessen hat, erlebt nun, wie ihre Tochter Jahrzehnte später ebenfalls zu einer politischen Gefangenen wird.

Mütter sind titelgebend für die ersten beiden Stücke der Saisoneröffnung des Maxim Gorki Theaters. MOTHER TONGUE – von Lola Arias und einem diversen Ensemble aus Gästen – geht in einer sehr heutigen Recherche allen erdenklichen Fragen zu Mutterschaft und Reproduktion unseres Menschengeschlechts nach. Mit MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER von Brecht setzt Oliver Frljić – nunmehr Co-künstlerischer Leiter am Gorki – seine Kriegstrilogie mit dem Gorki Ensemble fort.

Zuvor öffnet das Gorki seine Türen aber bereits mit sieben Wiederaufnahmen vom 19. bis zum 29. August.

Am ersten und zweiten Septemberwochenende wird das Studio Я nach drei Spielzeiten Renovierung und Zwischenbespielung mit dem Festival IN EXILE. QUEERWEEK22, kuratiert von Yunus Ersoy sowie kuratorischer Mitarbeit von Nele Lindemann und vielen Künstler*innen aus dem Dornröschenschlaf geweckt.

Unten finden Sie die Einladung zu MOTHER TONGUE am 11. September. Notieren Sie sich aber gerne schon den Termin von MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER am 9. Oktober. Zwischen den beiden Terminen feiern wir eine weitere Premiere im wiedereröffneten Studio am 1. Oktober. Christian Weise erarbeitet mit dem Gorki Ensemble einen DREI SCHWESTERN- Abend auf der Folie der berühmt gewordenen Inszenierung von Tschechows Stück, die Thomas Langhoff 1979 auf die Bühne des Gorki brachte. Mit Ausschnitten der Verfilmung seiner Inszenierung. Ein Spiel mit mehr als doppeltem Boden.

Thomas Langhoff starb vor zehn Jahren – 73-jährig, aber viel zu jung. Wenn auch nicht so jung wie sein Vater Wolfgang Langhoff. Der starb schon mit 64. Er war politischer Gefangener im Emslandlager – dort entstanden Die Moorsoldaten, Schauspieler und Regisseur, auch Intendant des Deutschen Theaters.

Wenn ich zurück in Berlin bin, gehe ich wieder mal auf den Dorotheenstädtischen Friedhof und besuche Bertolt Brecht, Thomas Langhoff und alle anderen. Seit wir unseren Freund Birol Ünel vor zwei Jahren dort beerdigt haben, war ich nicht mehr dort. Es wird wieder Zeit.
Als ich hier in Leros noch einmal Dschinns von Fatma Aydemir las, musste ich auch an Birol denken und an viele weitere Freund*innen, allesamt wie ich Kinder der sogenannten »Gastarbeiterinnen«. Die Inszenierung des Romans von Nurkan Erpulat erwartet Sie 2023 neben vielen weiteren spannenden Arbeiten.

Auf diese Produktionen und unsere Schauspieler*innen, auf Sie und Ihr weiteres Interesse am Gorki und auf meine Mitstreiter*innen in der Saison 2022/23 freue ich mich. Vielleicht fragen Sie sich, woher ich angesichts der aktuellen Kriege, der mannigfaltigen Bedenken von pandemischen Lagen und Energieversorgungskrisen, die ich auch hier auf der Insel empfange, soviel Optimismus nehme. Ich übersetze mir gerade Antonio Gramsci, ein anderer Insulaner. Er wurde 1891 auf Sardinien geboren und starb 1937 in Rom. Vor 100 Jahren gehörte er zu den Gründern der Kommunistischen Partei Italiens.

Die Infamie des italienischen Faschismus wird in Deutschland oft nicht klar genug gesehen. Das Regime erklärte den in einem Krankenhaus liegenden Antonio Gramsci am 21. April 1937 offiziell für frei. Am 27. April war er tot. Die Jahre im Kerker nutzte er wie kaum ein anderer. Er las, machte sich seine Gedanken und schrieb. In seiner Zelle befreite er den Marxismus aus der leninistischen Umklammerung und verhalf ihm zu einem neuen Leben.

Diese Notizen wurden als die Gefängnishefte weltberühmt. In ihnen stieß ich bereits in jungen Jahren auf die mir Mut machenden Sätze »Was wir brauchen ist Nüchternheit: einen Pessimismus des Verstandes, einen Optimismus des Willens«.

Auf Leros gibt es kein Gefängnis und keine Umerziehungslager mehr, aber seit vergangenem Herbst ein großes neues Flüchtlingslager. Eine Reaktion auf die Misere und den Notstand der Geflüchteten in den vergangenen fünfzehn Jahren auch auf dieser Insel. Mit festen Bauten, Sanitäranlagen, Heizungen, sowie fließendem Wasser für 2.000 Menschen, auf einer Insel mit 8.000 Einwohnern.

Nichtregierungs- und Hilfsorganisationen sehen diese Lager trotzdem kritisch, weil sie die Bewegungsfreiheit der Bewohner stark einschränkten und sich sehr abgelegen befänden. Journalist*innen berichteten über umfangreiche Überwachungsmaßnahmen, die Lager wurden mit Gefängnissen verglichen.

Zurzeit wird es von ca. 140 Menschen bewohnt. So versichert mir Antonis Ntallaris, der Präsident des Kulturvereins Artemis. Er erzählte mir auch, dass von denen, die nicht ertrunken sind und es auf eine Insel schaffen, kaum jemand dortbleiben möchte. Die meisten ziehen weiter – wenn Sie dürfen. Sie suchen Arbeit und keine Almosen.

Ich höre jetzt auf und gehe ins Kulturzentrum Artemis in Platonos. Dort wird getanzt mit Blick auf die imposante byzantinische Burg und gesungen in Räumen, die es wohl so nicht mehr gäbe, wären sie nicht 1982 besetzt worden.

Also tanzen und singen, mit Panagiota from Leros, mit Jean-Jaques dem französischen Armenier, mit den Italiener*innen Enzo und Cetin, die den Verein Freunde von Leros gegründet haben und darum kämpfen, das Lakki ins Weltkulturerbe aufgenommen wird, mit Zaharoula Xatzikonstantinou die zusammen mit Antonis und vielen Mitstreiter*innen bereits hunderten von jungen Menschen auf Leros, die Tänze und Gesänge der zwölf Inseln gelehrt hat. Tanzen und singen, trotz alledem und gerade darum.

Bis bald im Gorki, hoffentlich tanzend und singend nach einer der Premieren in den kommenden Monaten.

Ihre Shermin Langhoff

 

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P.S.

 

Am 11. September feiern wir die erste Premiere der neuen Spielzeit 2022/23! Die Autorin, Theater- und Filmregisseurin und Performerin Lola Arias erarbeitet mit ihrem Ensemble die Produktion MOTHER TONGUE. Dies ist nach FUTURELAND und ATLAS DES KOMMUNISMUS das dritte dokumentarische Theaterstück, das Lola Arias am Gorki zeigt.

 

Premiere

MOTHER TONGUE
Von Lola Arias
11. September, 18:00 Uhr, Bühne

Text & Regie Lola Arias Übersetzung, Dramaturgie, Produktionsleitung Lola Arias Company Laura Cecilia Nicolás, Bibiana Picado Mendes Video, Licht, Technische Leitung Lola Arias Company Matias Iaccarino Bühne und Kostüme Mariana Tirantte Musik Meike Clarelli, Davide Fasulo Choreografie Luciana Acuña Dramaturgie Johannes Kirsten, Edona Kryeziu Cast Bibiana Picado Mendes

Mit Ufuk Tan Altunkaya, Cochon de Cauchemar, Kay Garnellen, Alice Gedamu, Millay Hyatt, Nyemba M'membe, Leisa Prowd, Sandra Ruffin

 

Weitere Vorstellungen

12. September, 18:00 Uhr, 18. und 19. September, 19:30 Uhr, Bühne

Ein hochauflösendes Bildmotiv zur Ankündigung finden Sie hier.

Für Rückfragen und Anmeldungen stehen Ihnen Wolfgang Kaldenhoff oder Anna Laletina gerne zur Verfügung. 

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