Marta Górnicka setzt sich in ihren Arbeiten intensiv mit Chören auseinander und zeigte am Maxim Gorki Theater zuletzt die Produktion Jedem das Seine, die die Instrumentalisierung weiblicher Körper untersucht. Um ihre Forschung über die Möglichkeiten des chorischen Arbeitens zu vertiefen, gründete Górnicka im Herbst 2019 das Political Voice Institute (PVI) am Maxim Gorki Theater, das sich als Workshop-Zentrum versteht.
Du hast das Political Voice Institute am Maxim Gorki Theater gegründet. Kannst du das Konzept, deine Vision erläutern?
Marta Górnicka: Das Political Voice Institute ist, vereinfacht gesagt, ein politisches Labor, in dem mit einem Theaterchor gearbeitet wird, mit kollektiver Stimme / Körper und Sprache. Das Ensemble des PVI besteht aus 17 Personen – Performer*innen aus Israel, Deutschland, Polen, dem Libanon, Frankreich, Brasilien und Korea, darunter auch Schauspieler*innen des Gorki Theaters. Eine multilinguale Gruppe gesellschaftlich und politisch engagierter Performer*innen, Tänzer*innen, Sänger*innen – Personen mit unterschiedlichen Erfahrungen und politischen Backgrounds. Mich interessiert der Chor als ein lebendiger Gesellschaftskörper, als ein Raum der Begegnung und der Spannungen, in dem sich Unterschiede
artikulieren können, in dem aber auch eine gemeinsame Stimme entsteht. Unser Ausgangspunkt ist Platons Idee der chorea, in der der Theaterchor den Körper der Gemeinschaft symbolisiert, der von der Kraft des Rituals sowie von einer kritischen und bewussten Herausarbeitung der ihr zugrundeliegenden Prinzipien lebt.
Das Chortheater als Performancekörper erforscht die Verfasstheit der Gemeinschaft, fragt nach der Konstruktion des politischen Subjekts, nach dem, was Platon als politeia bezeichnet.
Kannst du etwas zum Prozess erzählen?
Der Chor des PVI ist ein Ort für Experimente, an dem neue Chorinstrumente für die Arbeit mit Stimme und Körper entwickelt werden. Uns interessiert, auf welche Art die Anatomie der Gemeinschaft in die Musik und in den Gesang eingeschrieben ist – angefangen von Abzählversen über Popsongs, Heavy Metal und Schubert, bis hin zum Repertoire des Mädchenorchesters von Auschwitz.
Der Chor des PVI beruft sich natürlich auch auf die Ursprünge des Chors, auf das Rituelle, auf seinen heilenden Aspekt. Wir suchen nach neuen Formen für einen modernen Chor, eine Art Labor für eine neue Gesellschaft.
Wie können wir die Stimme nutzen, um echte politische und gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen? Wie kann die Stimme im Dienst der Freiheit eingesetzt werden? Wie können wir mit Hilfe der Stimme das Publikum in den künstlerischen Prozess miteinbeziehen? Uns interessiert die Stimme als Vehikel des Politischen. Als Ort des Austausches.
Ähnlich wie ein Computerhacker soll der Chor Systeme patriarchalischer, rassistischer und kapitalistischer Verhaltensmuster hacken.
Wir arbeiten mit Komponist*innen, Choreograf*innen, DJs und DJanes, Aktivist*innen und Philosoph*innen zusammen. Wir suchen gemeinsam nach neuen Formen kollektiver und gesellschaftlicher Theaterpraktiken, nach communitas, nach inklusiven Gemeinschaften und bereiten uns darauf vor, in den öffentlichen Raum hinauszutreten, mit stimmlichen und choreografischen Interventionen. Unser Ziel ist es, so etwas wie ein Workshop des Widerstands, ein Workshop für eine neue Gesellschaft zu sein.
Während des 4. Berliner Herbstsalons fand Regina José Galindos Performance Wir akzeptieren eure Entschuldigungen nicht statt: Eine Gruppe von Frauen mit Äxten und Stahlrohren zerstört ein Auto der Marke BMW, Symbol für patriarchale Macht und kapitalistische Ausbeutung. Auch deine Werke können als Kritik an der patriarchalen Weltordnung gelesen werden: der Chor als soziales Gegenmodell. Deine Chöre vertreten ihre Positionen kraftvoll. Klagen sie auch an?
Der Chor will in erster Linie zum Denken anregen. Er will gesellschaftliche Muster aufbrechen, unbewusste Muster, nach denen Gesellschaften funktionieren. Auf welche Weise handeln wir, wann bleiben wir gleichgültig, taub, auf welche Weise bringen wir andere zum Schweigen, wie protestieren wir? Und schließlich, wie sieht das choreografische Muster für die Demokratie aus, für den Tod der Demokratie, für den Populismus oder für die Tyrannei? Das PVI ist ein musikalisches und choreografisches Labor, im Sinne eines Labors gesellschaftlicher Utopien und Fantasien.
Akzeptierst du Entschuldigungen?
Ich persönlich? In der Regel schon. In der Politik sind dies jedoch meist erzwungene und verspätete Gesten, die selten mit einer echten – zum Beispiel finanziellen – Wiedergutmachung einhergehen.
Kann ein Chor sich entschuldigen?
Der Chor ist ein kritisches Werkzeug, aber auch ein Werkzeug, das die Kraft der kollektiven Stimme zum Ausdruck bringt, das Kraft gibt, Widerstand zu leisten. Er ähnelt einer Gorgone, die nicht in Athenes Schild gespiegelt, sondern dem Publikum direkt, brutal und in aller Schärfe vors Gesicht gehalten wird. Der Chor ist eine monströse Figur des Kollektiven. Ich assoziiere den Chor nicht mit einem Akt der Entschuldigung. Eher mit einem Akt der Rebellion.