Ein Chor

Dokumentarfilm von Merlyn Solakhan und Manfred Blank. 64 Min., Farbe. 1996

Wenn ein Chor, einer von Amateuren zumal, von Menschen, die die Musik und das Singen lieben, seit mehr als neunzig Jahren besteht, dann ist das etwas Besonderes. Unser Chor ist der älteste Chor von französischen Immigranten. Wenn dieser Chor, etwa fünfzig Männer und Frauen, mit Berufen wie Architekt, Student, Hausfrau, Buchhalter, Techniker, Edelsteingutachter, Schneider, zusammen mit seinem Chorleiter seit über vierzig Jahren, dem Komponisten Garbis Aprikian, dazu noch neben professionellen Chören mehr als bestehen kann, ein Dutzend Platten und CDs veröffentlicht und viele Hunderte von Konzerten gegeben hat, dann ist das nahezu einzigartig, wenn man zudem bedenkt, dass dieser Chor ein Programm hat, das hergeleitet ist direkt aus der Identität seiner Mitglieder: er hat sich der armenischen Musik verschrieben, hat sich zur Aufgabe gemacht, dem Erbe von Komitas, der in seiner Musik und seinem Schicksal zu einer Symbolfigur geworden ist für die Leiden der Armenier in diesem Jahrhundert, und den Arbeiten seiner direkten und indirekten Schüler den Platz zu sichern, den sie in der (nicht nur Musik-) Geschichte unseres Jahrhunderts verdienen.

»Sipan - Komitas, so heißt unser Chor, besteht aus Überlebenden, aus Menschen, die dem ersten Genozid des 20.Jahrhunderts entkommen sind, und aus ihren Nachfahren. Sie sind sich ihrer Geschichte bewusst. Ihre Mütter und Großmütter sind es gewesen, die sie ihnen unmittelbar überliefert haben. Aber sie, die Armenier in Frankreich, begnügten sich nicht mit dem Mitleid, das ihnen sicher gewesen wäre als Angehörigen eines gepeinigten Volkes, sie wollten nicht respektiert werden, weil sie Opfer sind. Aus der über die Jahrhunderte (als Minorität im osmanischen Anatolien) entwickelten Fähigkeit zur Organisation in Eigeninitiative und aus dem Willen, sich auch in diesem neuen westlichen Umfeld als ein Volk mir einer dreitausend Jahre alten Sprache und Kultur Respekt zu verschaffen, rührt ein Beispiel her einer gelungenen Integration bei weitgehender Wahrung der eigenen kulturellen Identität.
Unser Chor ist (nicht unwesentlicher) Teil eines Geflechts von armenischen Institutionen, Initiativen und Aktivitäten, das sich seit den 20er Jahren in Frankreich und besonders in Paris entwickelt hat (und das, vielleicht noch wichtiger, zum größten Teil noch intakt ist). Er betreibt Politik, indem er singt.
Wir lassen ihn singen, wir schauen ihm zu bei den Proben, wir machen mit ihm eine Reise durch die armenischen Institutionen. Und wir hören den Erzählungen und Geschichten seiner Mitglieder zu: es wird deutlich, dass in seinem Gesang nicht nur anklingt, vielmehr zur Sprache kommt, was uns alle berührt, im heutigen Europa der Migrationen.«


Merlyn Solakhan ist in Istanbul/Türkei geboren und dort aufgewachsen als Tochter einer Griechin und eines Armeniers. Seit 1979 ist sie in Deutschland. Nach dem Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) hat sie als Filmemacherin in Istanbul und Berlin gearbeitet und mit Manfred Blank die Firma blankfilm Berlin gegründet, dort als Regisseurin und Drehbuchautorin gearbeitet und viele Dokumentarfilme für das Fernsehen (ZDF/3sat, WDR3, SFB, NDR3, SRF, ARTE etc.) und das Kino realisiert, mit dem Themenschwerpunkt Türkei und ihre Minderheiten.