DENSELBEN TRAUM AN UNTERSCHIEDLICHEN ORTEN TRÄUMEN


Ein Beitrag der Schauspielerin Kenda Hmeidan über die ständige Bewegung, in der Literatur sowie im Leben.
Der Originaltext wurde auf Englisch verfasst.

Corona gab mir, wie auch vielen anderen, Zeit, über meine Vergangenheit, meine Erinnerungen und meine Zukunftsängste nachzudenken. Als die Außenwelt aufhörte, sich zu bewegen, richtete ich meine Aufmerksamkeit nach innen. Ich dachte über Neuanfänge nach. Meine beiden Neuanfänge in Syrien und Deutschland. Da ich als Schauspielerin während der Pandemie nicht arbeiten konnte, hatte ich mehr Zeit, syrische Freund*innen in ganz Europa, Syrien und dem Libanon zu kontaktieren. Ich schaute mir meine Festplatte voller Videos und Bilder aus meiner Schul- und Studienzeit an, aus den letzten Jahren vor meiner Abreise. Ich sah all die Gesichter, die nun über den ganzen Planeten verstreut sind. Wir kamen alle aus demselben Ort und hatten alle unterschiedliche Wege und Geschichten, wie wir in den Ländern gelandet sind, in denen wir nun leben. Alle hatten ihre eigenen Mittel und Wege, sich einzuleben und sich in die Gesellschaft zu integrieren oder die Integration zu verweigern. Die Transition, die wir alle durchgemacht haben, ist der Übergang von Geflüchteten zu Bürger*innen. Doch wie haben die Revolution und der Krieg in Syrien unsere Weise, unsere Geschichten und unsere Identitäten als Künstler*innen darzustellen, geprägt? Und wie beeinflussen sie die Kunst, die wir in Europa und auf der ganzen Welt schaffen? Wird das Vergessen uns helfen weiterzumachen? Oder ist es genau andersherum? Dass wir unser Heimatland retten, indem wir uns ständig daran erinnern? Wann werden wir aufhören, in uns hineinzuhorchen, und können den Blick nach außen richten? Ist dies überhaupt möglich, während sich die Dinge in Syrien immer noch wiederholen oder sogar verschlechtern? Ich hatte das Bedürfnis, die Vergangenheit zu verstehen, die Erde, aus der ich komme und in der ich verwurzelt war oder ob ich überhaupt je verwurzelt war.

Als ich zum ersten Mal das Buch »Eine Zusammenfassung von allem, was war« von Rasha Abbas las, war ich überrascht, einen solchen Text auf Arabisch zu lesen, insbesondere dem hocharabischen Al Fusha. Für uns Araber*innen hat Fusha einen amtlichen und anständigen, mitunter sogar heiligen Klang. Wie Rasha das Hocharabische benutzt und versucht, neue Techniken zu erfinden, um strukturell und narrativ komplexe Geschichtsformen zu beschreiben, war beeindruckend und mitunter schockierend für mich. Als Leserin zwingt sie mich dazu, die Dinge in Großaufnahme zu betrachten; ihre Sprache dringt in meinen persönlichen Bereich ein, ohne dass ich die Möglichkeit habe, ihr zu entkommen.

In welcher Form können syrische Menschen ihre Geschichten, Ideen, Traumata und ihren Weg vom Heimatland nach Europa ausdrücken? Themen wie Exil, Inhaftierung, Isolation, Einsamkeit, Folter, physische und psychische Gewalt, Zugehörigkeit, Identitätsverlust, Entfremdung, die Syrer*innen im Ausland von Syrer*innen trennt, die noch im Land feststecken, Transformation und neue Beziehungsstrukturen innerhalb der Familien.

Wie haben sich familiäre Beziehungen verändert und neue Formen angenommen? All diese Fragen und Themen sind auch nach elf Kriegs- und Nachkriegsjahren noch dringlich, insbesondere für uns als Künstler*innen. Wie können wir über all das sprechen, ohne stets in der Position des Opfers, des »armen syrischen Flüchtlings« zu sein? Wie können wir über die Vergangenheit sprechen, ohne nur das Drama und die Zerstörung dort, wo wir herkommen, zu zeigen (und die beständige Nostalgie, weggegangen zu sein), sondern eine Vergangenheit, die die Gegenwart und Zukunft bereichern kann?

Aus meiner Sicht ist Eine Zusammenfassung von allem, was war von Rasha Abbas, einer syrischen Schriftstellerin, die im Exil lebt, ein Versuch, das Unbeschreibliche zu beschreiben. Von Erinnerungen zu erzählen und von dem, was passiert ist – nicht nur in Syrien, denn sie nennt selten Ortsnamen, sondern überall, wo Menschen von Zerstörung und Tod umgeben sind. Sei es in der Verwüstung des Krieges um sie herum oder in ihrer psychischen Gesundheit, die von Zerstörung beherrscht wird. Sie entscheidet sich, nicht dokumentarisch oder aus einer persönlichen Perspektive darüber zu schreiben, sondern mit Hilfe fiktiver und abstrakter Bilder, durch die Erfindung surrealer Ereignisse und Szenarien, die Verwendung von Sarkasmus und Verachtung, eine spielerische Realität, in der die Überlagerung von Orten und Zeiten die Möglichkeit des Entkommens suggeriert. Die ständige Bewegung der Charaktere von einem Ort zum anderen und die Unfähigkeit des Innehaltens in einer Welt, in der das Chaos regiert. Indem sie sich weigert, die Realität als das hinzunehmen, was sie ist, gibt sie uns als Leser*innen ein Gefühl des Widerstands und der Fähigkeit, das Geschehene zu überleben, entweder durch körperliche oder durch geistige Bewegung, unsere starke Fähigkeit, uns Dinge vorzustellen und gedanklich durch Zeit und Raum zu springen. Dies gibt den Figuren die Möglichkeit zu wählen. Selbst, wenn sie mit Seilen gefesselt sind, sind sie noch bereit zu kämpfen. Selbst wenn sie Todesangst haben, lächeln sie noch – und wenn sie gefoltert werden, können sie ihren Atem ewig anhalten. Für mich ist das in der Tat eine andere Botschaft als alles, was ich bislang an syrischer Kunst gelesen oder gesehen hatte, da es unabhängige Charaktere abbildet, die Entscheidungen treffen konnten. Eine Zusammenfassung von allem, was war ist ein langer Traum, der sich in unterschiedlichen Bildern wiederholt, und eine Geschichte über Charaktere, die denselben Traum an unterschiedlichen Orten träumen. Die Aufgabe der Leser*innen ist es, diese Träume zu dechiffrieren, sie zu deuten und zu versuchen, sie mit den realen Tatsachen zu verknüpfen.

Ich beende meinen Versuch, über meine Reise mit diesem Buch zu sprechen, mit der ersten Zeile des deutschen Textes von Rasha Abbas in der Übersetzung von Sandra Hetzl: »Was uns zerbricht, das rettet uns.« Diese Botschaft hat mich darin bestärkt, dass es eine andere Perspektive gibt, auch wenn man nicht verwurzelt ist oder nirgendwo hingehört. Diese entwurzelten Charaktere haben nichts zu verlieren, daher gibt es nichts, was sie zerbrechen oder verletzen kann, und sie werden immer weitergehen, bis sie erreicht haben, was sie wollen. Oder vielleicht ist das Motiv auch einfach die Bewegung selbst, ohne einen Ort oder ein Ziel erreichen zu müssen.

(aus dem Spielzeitheft #24)