
Karikatür: Serkan Altuniğne
– …ergeht folgendes Urteil: Die Inhaftierung des Angeklagten wird angeordnet, da er mit seinem Slogan »Alles wird schön sein« Ekrem İmamoğlu zu unserer Plage machte.
– Befehl aus dem Präsidentenpalast: Alle verhaften!
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Berkay Gezgin sah vor sechs Jahren einen Wahlkampfkonvoi in seinem Viertel. Im vorderen Bus saß der gewählte Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu. Berkay Gezgin war erst 16 Jahre alt und rannte zusammen mit anderen Kindern und Jugendlichen aus der Nachbarschaft neben dem Bus her. Als İmamoğlu ihm zuwinkte, rief er: »Alles wird schön sein, Ekrem Abi…«
İmamoğlu war sehr berührt davon. Er öffnete das Fenster und rief ihm zu:
»Bravo! So wird es kommen, alles wird schön sein.«
Dabei waren es Tage, in denen alles immer schlimmer wurde. İmamoğlu hatte bei der Wahl am 31. März 2019 gegen Erdoğans ehemaligen Premierminister Binali Yıldırım mit einem Vorsprung von 13.000 Stimmen gewonnen. Für eine Stadt mit 16 Millionen Einwohnern war das ein hauchdünner Unterschied. Erdoğan war wütend und ließ die Wahl annullieren. Im Juni sollte neu gewählt werden.
İmamoğlu ging erneut in den Wahlkampf und machte Berkays Zuruf zu seinem Wahlslogan. Bei jeder Wahlveranstaltung hallte dieses Versprechen wie ein Echo wider. Junge Menschen, die in ihrem kurzen Leben nie ein anderes Staatsoberhaupt als Erdoğan erlebt hatten, und Menschen, die es satt hatten, immer nur seine Stimme zu hören, begannen sich mit diesem Satz zu grüßen und Hoffnung zu schöpfen. Sie waren so wütend darüber, dass ihr Wille nicht respektiert wurde, dass im Juni auch diejenigen zur Wahlurne gingen, die zuvor nicht gewählt hatten. İmamoğlu erhöhte seinen Vorsprung von 13.000 bei der annullierten Wahl auf 800.000 in der Wiederholungswahl zwei Monate später. Erdoğan musste das Ergebnis widerwillig akzeptieren.
Präsident Erdoğan hatte in seiner fast 25-jährigen Amtszeit nie eine Wahl verloren – außer bei dieser letzten Kommunalwahl. 2024 spürte er erstmals, dass seine Herrschaft in Gefahr geriet, denn seine Partei war auf den zweiten Platz zurückgefallen. Die Opposition hatte sich gegen ihn vereint und war erstarkt. Je mehr die Wirtschaft ins Straucheln geriet, desto kleiner wurde seine Wählerbasis. Er musste etwas tun, um diesen Aderlass zu stoppen und konnte nicht wie bisher seine Anhänger mit kleinen finanziellen Hilfen ködern, denn die Staatskasse war völlig leer. Auch konnte er nicht, wie vor jeder Wahl, eine militärische Operation in Syrien starten und sagen: »Unser Land ist im Krieg, jetzt ist nicht die Zeit für Opposition«, denn das Regime in Syrien hatte sich ja geändert. Also suchte und fand er die praktischste aller Lösungen: die Opposition zu zerschlagen.
Machte das Putin nicht genauso? Oder Lukaschenko? Oder Alijew? Regierten sie nicht, indem sie ihre Gegner einsperrten, Kritiker bestraften und die Medien zum Schweigen brachten? Waren nicht gerade populistische Regierungen – von den USA bis nach Europa – auf dem Vormarsch, Menschenrechte kein Thema mehr und Sicherheitsbedenken weit wichtiger als demokratische Werte? Es war also der perfekte Zeitpunkt. Während die Türkei eine Schlüsselrolle in Syrien, in der Ukraine und in Europa spielte, würde ihn niemand zur Rechenschaft ziehen. Also drückte er auf den Knopf und ließ seinen stärksten Gegner, den er an der Wahlurne nicht besiegen konnte, ins Gefängnis stecken.
Am frühen Morgen des 19. März umstellten Hunderte Polizisten das Haus von Ekrem İmamoğlu, dem Oberbürgermeister von Istanbul. Sie klopften an seine Tür und erklärten ihm, dass er in Gewahrsam genommen werde. Die größte Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei), der İmamoğlu angehört, wollte ihn wenige Tage später als ihren Präsidentschaftskandidaten bekannt geben, aber Erdoğan konnte dies nicht zulassen und wollte ihn noch vor dieser Ankündigung im Gefängnis sehen.
İmamoğlu hatte es sich während seiner Wahlkampfauftritte zur Gewohnheit gemacht, zu Beginn seiner Reden sein Jackett auszuziehen, die Krawatte zu lockern und die Ärmel hochzukrempeln. Die Menschen, die eine solche, frische Geste nicht gewohnt waren, imponierte das so sehr, dass sie ihm bei seinen Kundgebungen von Anfang an zuriefen: »Zieh dein Jackett aus!« Diesmal war es anders: Während die Polizei vor seiner Tür wartete, zog İmamoğlu in seinem Schlafzimmer sein Hemd an, band seine Krawatte um und zog sein Jackett an. Währenddessen war die Kamera seines Handys eingeschaltet, in die er ruhig sprach: »Wir stehen einer großen Tyrannei gegenüber. Aber ich werde nicht aufgeben.«
Seine Frau und seine zwei Kinder beobachteten mit Sorge, wie er abgeführt wurde. Seine 13-jährige Tochter Beren weinte nicht, sondern sagte zu ihrer Mutter: »Ich gehe zur Schule. Ich werde mein Leben weiterleben.« Und verließ das Haus…
Millionen verließen mit ihr das Haus. Zuletzt waren junge Menschen 2013 in Istanbul auf die Straßen gegangen, um die Abholzung von Bäumen im Gezi-Park zu verhindern. Diese Proteste endeten mit dem Tod von acht jungen Menschen durch Polizeigewalt. Danach verbreitete sich Angst, die Straßen blieben leer, Demonstrationen wurden verboten. Sozialdemokrat*innen zögerten aus Angst vor Provokationen, zu Protesten aufzurufen. Auch diesmal verbot die Regierung umgehend alle Demonstrationen und sperrte die Straßen, die zu den Plätzen führten.
Doch rund fünf Millionen Istanbuler*innen, die İmamoğlu gewählt hatten, hielten sich nicht an das Verbot. Sie ignorierten die Warnungen. Die Mauer der Angst stürzte ein, die Polizeibarrikaden wurden durchbrochen. Vor allem Studierende brachten den Protest auf die Straße. Die CHP-Führung, die sich bisher darauf beschränkt hatte, ihre Opposition im Parlament oder in Pressekonferenzen zu zeigen, spürte den Druck der Jugend und rief schließlich alle auf die Straße. Özgür Özel, der bis zuletzt als unscheinbarer Parteichef galt, entpuppte sich in der Krise als mutiger, entschlossener Anführer. Er verschärfte seinen Ton, forderte Erdoğan heraus, und als er die Polizeibarrikaden durchbrach, strömten die Massen auf die Straßen.
Erdoğans Plan war es, nach İmamoğlus Verhaftung die Kontrolle über die Stadtverwaltung von Istanbul unter fadenscheinigen Anschuldigungen mit juristischen Mitteln zurückzugewinnen. Schließlich wusste er genau, »Wer Istanbul gewinnt, gewinnt die ganze Türkei.« So war er selbst an die Macht gekommen. İmamoğlu sollte wegen »Kooperation mit Terroristen« verurteilt und ein Treuhänder als Bürgermeister eingesetzt werden.
Doch CHP-Chef Özel durchschaute das Spiel und machte einen überraschenden Schachzug: Er verlegte sein Büro ins Istanbuler Rathaus und erklärte, dass er dort auch übernachten werde. Ein Sofa wurde zum Bett umfunktioniert und die »Demokratie-Wache« begann. Die Istanbuler*innen verteidigten das Rathaus wie ihre eigene Festung. Eine Woche lang versammelten sich jeden Abend um 21 Uhr Millionen von Menschen, um Özel zu folgen. Schließlich gab Erdoğan nach, ließ die Terroranklage gegen İmamoğlu fallen und verzichtete auf die Einsetzung eines Treuhänders. Die »Festung« wurde an einen anderen CHP-Politiker übergeben, der stellvertretend die Amtsgeschäfte des Oberbürgermeisters übernehmen wird. Die Menschen feierten ihren Sieg trotz Polizeigewalt, Tränengas und Wasserwerfern mit Liedern und Tänzen.
Unter den Feiernden war auch Berkay Gezgin, inzwischen ein 22-jähriger Student. Er erlebte mit eigenen Ohren und Augen, wie sein Ruf von damals für Millionen ein Slogan geworden war und rief erneut: »Alles wird schön sein!« Er wurde von Wasserwerfern attackiert, seine Kehle brannte vom Tränengas, er wurde in Gewahrsam genommen und verhaftet.
Als er ins Gefängnis gebracht wurde, sagte er in eine Handykamera:
»Alles wird schön sein – aber nur, wenn wir kämpfen!«
İmamoğlu verfolgt all das, diesen für ihn geführten Kampf, von seiner Zelle in Silivri aus. Die Besucher*innen des Gorki kennen diese Zelle. Eine originalgetreue Nachbildung, in der auch ich eine Zeit lang verbracht habe, wurde im Garten des Theaters ausgestellt.
Vor meinem inneren Auge sehe ich eine Szene:
İmamoğlu sitzt in seinem kahlen Raum, der nur aus ein paar Habseligkeiten, einem Plastiktisch und einem Plastikstuhl besteht, wie er mit Tränen in den Augen auf dem kleinen Bildschirm die Proteste sieht, die für ihn abgehalten werden und in der benachbarten Zelle gibt es noch jemanden, der dieselben Bilder sieht – ebenfalls mit Tränen in den Augen: Der 22-jährige Berkay, der einst dem Wahlkampfbus hinterherlief und nun im selben Gefängnis sitzt wie sein Idol.
Auf dem Bildschirm sehen sie beide wie Hunderttausende Menschen mit einer Stimme rufen: »Alles wird schön sein!«