Karikatur: Serkan Altuniğne
– Ich vertraue dir Alice. Nur du kannst uns vor diesen Afghanen, Syrern und Pakistanern retten! Bei der nächsten Wahl hast du meine Stimme!
– Ihr habt ein tolles Sprichwort Cem: »Der Gast möchte den Gast nicht, der Gastgeber möchte beide nicht.« Kennste?
– Ja… Warum?
– Ach, jetzt verstehe ich…
Köşe yazısının Türkçe orijinal metni için tıklayınız.
Am 23. August 1973 fand in Stockholm ein bewaffneter Raubüberfall statt, bei dem Jan-Erik Olsson vier Bankangestellte als Geiseln nahm. Die Polizei umstellte umgehend das Gebäude, Scharfschützen positionierten sich auf den Dächern. Die Medien eilten zum Ort des Geschehens, das schwedische Fernsehen übertrug zum ersten Mal live von einem Tatort. Olsson drohte, die Geiseln zu töten, wenn ihm nicht drei Millionen schwedische Kronen gezahlt und der berühmte Bankräuber Clark Olofsson aus dem Gefängnis entlassen würde. Olofsson wurde aus dem Gefängnis in die Bank gebracht, wo er sofort die Führung übernahm und die Verhandlungen mit der Polizei führte. Die Geiselnahme dauerte sechs Tage. Weder die Polizei noch die Räuber wollten nachgeben. In den sechs Tagen wurden einige Geiseln immer unruhiger, andere von ihnen entwickelten Sympathie für die Räuber und stellten sich gegen die Polizei. Eine Geisel sagte sogar am Telefon zum damaligen Premierminister Olof Palme: »Ich habe keine Angst vor den Räubern, sondern davor, dass die Polizei die Bank stürmt.« Schließlich wurde die Krise durch einen umstrittenen Polizeieinsatz beendet; doch die Zuneigung der geretteten Geiseln zu den Räubern hielt auch während des gesamten Gerichtsprozesses an. Es gab sogar Gerüchte, dass eine der Geiseln eine Beziehung mit einem der Räuber hatte. Diese Ereignisse führten zur Prägung eines neuen Begriffs in der Psychiatrie: dem »Stockholm-Syndrom«. Es wird als psychologisches Phänomen verstanden, bei dem Opfer von Geiselnahmen ein positives emotionales Verhältnis zu ihren Entführern aufbauen. Das »Stockholm-Syndrom« beschreibt den Verlust des Realitätsbezugs und den Versuch, dem/der Täter*in zu gefallen, um sich vor einem negativen Ausgang zu schützen.
Die Mehrheit der türkischstämmigen Gemeinschaft in Deutschland ist besorgt über den Aufstieg der migrationsfeindlichen AfD. Xenophobie, antimuslimischer Rassismus und die Tatsache, dass selbst eingebürgerte Menschen mit Migrationsgeschichte von dieser Partei weiterhin als »Ausländer« betrachtet werden und mit Remigration bedroht werden, verstärken diese Ängste. AfD-Vertreter*innen verbreiten schon lange die Thesen, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre, dass Muslime in Deutschland und überall in Europa ein kulturelles Problem darstellten, und dass die zahlreichen Wähler*innen von Erdoğan ein Beweis für die gescheiterte Integration seien und Deutschland verlassen sollten. Noch gefährlicher ist, dass die Regierungsparteien, die erkennen, dass die AfD von Migrationsfeindlichkeit profitiert, damit begonnen haben, ihre eigene Politik dahingehend zu verschärfen; die Mitte-Links-Parteien nähern sich der Rhetorik der AfD, um keine Wähler*innen zu verlieren. Dies hat ein politisches Klima geschaffen, das sich insgesamt stark nach rechts verschiebt.
Die meisten Menschen mit Migrationsgeschichte sind jedoch mit der Sensibilität und den Reaktionen der deutschen Gesellschaft gegenüber der AfD zufrieden. Die massiven Proteste im Januar haben ihnen das Gefühl gegeben mit der Bedrohung nicht allein zu sein.
Was hat das mit dem Stockholm-Syndrom zu tun? Die Ausnahmen, die die oben genannten Verallgemeinerungen widerlegen, haben damit zu tun. Denn die AfD erhält auch Unterstützung und Stimmen von einigen türkischstämmigen Deutschen. Es wird sogar berichtet, dass türkischstämmige Geschäftsleute die AfD finanziell unterstützen. Ein ähnliches Phänomen wurde bei den Wahlen Ende September in Österreich beobachtet. Birol Kılıç, der Präsident der Türkischen Kulturgesellschaft (TKG) in Österreich, berichtete gegenüber Deutsche Welle Türkçe, dass es auch türkischstämmige Österreicher*innen gibt, die für die rechtsextreme FPÖ stimmen.
Warum ist das so? Wie kann es sein, dass Mitglieder von Gruppen, die das Angriffsziel der extremen Rechten sind, für eine solche Partei stimmen? Was ist das, wenn nicht das Stockholm-Syndrom?
Die Antwort ist nicht einfach: Zunächst muss betont werden, dass es sich hierbei nicht um einen allgemeinen Trend handelt, sondern um eine kleine Gruppe. Zudem sollte hervorgehoben werden, dass die Wähler*innen nicht die Politik dieser Parteien unterstützen, sondern vielmehr aus dem Motiv heraus handeln, die anderen Parteien zu bestrafen. Erinnern wir uns daran, dass Präsident Erdoğan 2017 den türkischstämmigen Deutschen empfahl, nicht die Christlich Demokratische Partei, die Sozialdemokratische Partei oder die Grünen zu wählen. Es blieben also nur wenige Alternativen. Hinzu kommt, dass viele der in Deutschland lebenden Türkeistämmigen, die bisher meist sozialdemokratisch oder die Grünen gewählt haben, darüber klagen, weiterhin ignoriert und ausgeschlossen zu werden und ihre Probleme nicht ernst genommen werden. Sie kritisieren die »Systemparteien«, die nicht auf ihre Bedürfnisse eingingen und reagieren mit der Wahl alternativer Parteien.
Ein weiterer Grund ist, dass die extrem rechten Parteien in Europa im Laufe der Zeit ihre migrationsfeindliche Rhetorik abgeschwächt haben. So hat die FPÖ in Österreich während des Wahlkampfs einige türkischstämmige Unterstützer*innen eingeladen und ließ sie im Fernsehen erklären, warum sie nicht mehr für die SPÖ stimmen werden.
Die AfD, die festgestellt hat, dass sie mit den anderen Parteien keine Koalition bilden kann, sieht sich auch gezwungen, zumindest einen Teil der Migrant*innen anzusprechen und zeigt erste Anzeichen einer Rhetoriköffnung. Deshalb erklärten manche AfD-Vertreter*innen: »Menschen mit Migrationshintergrund gehören auch zu Deutschland und zu unserer Partei. Wir können die Wahlen nur gemeinsam gewinnen.« Mit dieser Rhetorik versuchen sie, das Stigma der »ausländerfeindlichen Partei« zu entschärfen.
Ein anderer interessanter Punkt ist, dass die islamfeindliche Rhetorik der Partei gerade bei einigen Geflüchteten Anklang findet, die vor dem Druck des politischen Islams in ihren Ländern geflohen sind.
Jetzt kommen wir zum interessantesten Teil: Einige der türkischstämmigen Migrant*innen, mit denen ich gesprochen habe, sind über die »neuen Flüchtlinge« besorgt. Sie beschweren sich darüber, dass Afghan*innen, Syrer*innen und Pakistaner*innen sich in Deutschland nicht integrieren, die Sprache nicht sprechen, Verbrechen begehen, schlecht mit ihren Kindern umgehen und die Straßen verschmutzen. Die Verbrechen, die sie begehen und ihre Respektlosigkeit gegenüber Frauen führten in der deutschen Gesellschaft zu einer allgemeinen Ausländerfeindlichkeit, die auch ihre eigene Situation erschwere. Und Um »gut integrierte Türken« zu schützen, unterstützten sie die Idee, »nicht integrierte Flüchtlinge« zurückzuschicken. Diese Form des Rassismus, die den Eindruck erweckt, dass »die Ersten gegen die Letzten« stehen, isoliert die Geflüchteten und stärkt gleichzeitig die AfD. Die AfD-Vertreter*innen, die sich dieser Tendenz bewusst sind, sprechen die türkischstämmigen Wähler*innen explizit an, indem sie suggerieren, dass nur die Wahl der AfD die Einwanderung stoppen könne und propagieren, dass die »Neuen« ihnen auch Wohnraum und Jobs wegnähmen.
Die Politik, die Menschen mit Migrationsgeschichte innerhalb einer Statushierarchie gegeneinander aufhetzt und die von »guten Ausländern« gegen »schlechte Ausländer« geschürte Feindschaft, bedeutet letztlich nur eines: mehr Rassismus. Zur Erinnerung: Die Krise, die in den siebziger Jahren zur Entstehung des Begriffs »Stockholm-Syndrom« führte, endete gewaltsam.
Übersetzung aus dem Türkischen von Çiğdem Özdemir