Karikatur: Serkan Altuniğne
– Bereust du?
– Bereut ihr denn selbst?
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Der französische Philosoph Michel Foucault beschreibt in der Einleitung seines 1975 veröffentlichten Buches Überwachen und Strafen eine quälende Szene: Am 2. März 1757 wird ein Häftling, der dazu verurteilt wurde, öffentlich »Abbitte« zu tun, auf den Grève-Platz gebracht. Der Platz war gefüllt von Neugierigen. Je nach Urteil wird dem Verurteilten zunächst mit glühenden Zangen in die Brustwarzen, die Arme, die Oberschenkel und die Waden »gezwickt«; auf die sogenannt gezwickten Stellen wird folgend geschmolzenes Blei und siedendes Öl gegossen. Schlussendlich wird sein Körper von vier Pferden auseinandergezogen und zergliedert, die Glieder werden »vom Feuer verzehrt und zu Asche gemacht«, und seine Asche in den Wind gestreut.
Zeitungen berichteten, dass diese Prozedur Stunden dauerte, da die Zangen das Körperfleisch nicht ausreichend greifen konnten, das gegossene Blei nicht heiß genug war und die Pferde den Körper nicht auseinanderreißen konnten. Also mussten die Beine und Arme mit Äxten abgetrennt werden.
Während der gesamten Folter beugte sich der Gerichtsschreiber immer wieder zum schreienden Häftling und fragte ihn, ob er noch etwas zu sagen habe. Der Häftling verneinte beharrlich und flehte lediglich »Verzeihung, Herr!«.
Der Grund, warum dieser Text wie auch Foucaults Buch mit einer so grausamen Szene beginnt, ist, dass die Frage des Gerichtsschreibers auch nach 267 Jahren noch immer von Bedeutung ist: »Hast du etwas zu sagen?« Oder »Bereust du?«
Foucault schreibt, dass ab dem späten 18. Jahrhundert die Praxis der Folter, die die Strafe in ein »Fest der Marter« verwandelte, aufgegeben wurde. Auch die Praxis, ein Geständnis vor aller Augen zu erzwingen, endete gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Danach sei die Bestrafung zum geheimsten Teil des Strafprozesses geworden. Foucault schreibt:
»Die Bestrafung hat sich von der Kunst der Marter zu einer Ökonomie der ›aufgeschobenen Rechte‹ entwickelt. Auch wenn die Justiz weiterhin in die Körper der Verurteilten eingreifen muss, geschieht dies nun nach viel geordneteren Regeln und verfolgt ein ›höheres‹ Ziel. Durch diesen neuen Ansatz nimmt ein Heer von Technikern die Stelle des Folterknechts ein: Aufseher, Ärzte, Priester, Psychiater, Psychologen, Erzieher…«
Als Marter und Strafe voneinander getrennt wurden, nahm das schnelle Töten durch Methoden wie die Guillotine, das Erschießen oder das Erhängen die Stelle des schmerzhaften Todes ein. Später, als die Todesstrafe abgeschafft wurde, wurde eine Methode zur Bestrafung eingeführt, die dauerhafter ist als die physische Folter oder der Tod: Eingriffe in die Seele, den Geist. Der Souverän sollte diese Eingriffe auf verschiedene Arten vornehmen: Belohnung der reuigen und kooperativen Gefangenen (zum Beispiel durch Strafminderung oder Hausarrest) und Bestrafung der Unverbesserlichen (zum Beispiel durch Entlassungsaufschub etc.).
Die Ära, in der es darum ging, durch Folter oder Schmerz abzuschrecken, war beendet. Nun begann die Zeit, in der es darum ging, zu bessern und zur Reue zu zwingen und die Gefangenen somit dem Souverän zu unterwerfen. Bestraft wurde ab jetzt der Geist, nicht mehr der Körper…
İlhan Sami Çomak ist ein Dichter, der seit 30 Jahren in der Türkei im Gefängnis sitzt. Ich habe bereits früher in dieser Kolumne über ihn berichtet: Kolumne #28 (1)
Çomak, der 1994 im Alter von 21 Jahren wegen Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation verhaftet wurde, war unter schwerer Folter gezwungen worden, ihm vorgelegte Dokumente zu unterschreiben. Im Jahr 2000 verurteilte ihn ein Notstandsgericht wegen »Brandstiftung im Namen der PKK und Separatismus« zum Tod. Nachdem die Todesstrafe abgeschafft wurde, wandelte man seine Strafe zu lebenslanger Haft um. Die Europäische Menschenrechtskommission, bei der er 2001 Klage eingereicht hatte, verurteilte die Türkei erst fünf Jahre später wegen eines unfairen Verfahrens. Dessen Wiederaufnahme dauerte acht Jahre, und Çomak blieb während des gesamten Verfahrens im Gefängnis. Als er nach 20 Jahren einen Antrag auf Haftentlassung stellte, wurde ihm dieser aufgrund von Verdunkelungsgefahr verweigert. Der zweite Prozess begann erst 2014 und Çomak wurde erneut verurteilt. Nun wandte er sich an das Verfassungsgericht, aber das fällte kein Urteil. Çomak wurde in diesem furchtbaren Unrechtssystem älter und im Gefängnis zum Dichter. Mittlerweile 50 Jahre alt, sind seine Bücher in mehrere Sprachen übersetzt und ausgezeichnet. Als er 2021 den Preis der Norwegischen Schriftstellervereinigung verliehen bekam, schrieb er in einer Dankesnachricht:
»Zu wissen, dass meine Stimme aus tausenden Kilometern Entfernung gehört wird, dass gesehen und gewürdigt wird, wie ich trotz jahrzehntelang dauernder Widrigkeiten durch das Schreiben und das Denken meinen Überlebenswillen erhalte, bringt Licht in meine winzige Zelle, und ich bin hier aus einem sehr seltenen Grund glücklich.«
Der Anfang der Nachricht lautete:
»Je näher meine Entlassung aus dem Gefängnis rückt, desto schneller möchte ich die Tage und Monate hinter mich bringen und immer zum nächsten übergehen, um endlich die Freiheit und die ›Zukunft‹ zu erlangen, die ich mir wünsche. Aber es ist ganz anders. Auch ich bin wie jeder andere im ›Jetzt‹ gefangen. Dennoch habe ich bleibende Wünsche und Gefühle. Die Pferde in mir pusten unaufhörlich Atem in meine Lungen, um auf die Gerade des Lebens zu gelangen.«
Çomaks Pferde gelangten im vergangenen Monat auf die letzte Gerade des Lebens… Am Mittwoch, den 20. August, endete seine 30-jährige Wartezeit. Er packte seine Sachen und bereitete sich auf das neue Leben vor. Auch seine Eltern, die ihn drei Jahrzehnte lang geduldig erwartet hatten, standen am Gefängnistor bereit, um ihn zu empfangen. Doch kurz vor seiner Freilassung wurde er einem Gremium, das als Verwaltungs- und Beobachtungsausschuss bezeichnet wird, vorgeführt. Dieses Gremium war ein vier Jahre zuvor eingerichtetes, rechtlich nicht fundiertes Parallelgericht, das nahezu eins zu eins zusammengesetzt ist, wie bei Foucault: Gefängnisdirektor*innen, Staatsanwält*innen, Wärter*innen, Ärzt*innen, Psychiater*innen, Psycholog*innen, Sozialarbeiter*innen, Lehrer*innen… Die Mitglieder des Gremiums haben die Aufgabe, die »Führung« der Gefangenen zu bewerten und »Rehabilitationsnoten« abzugeben. Willkürlich können sie den Gefangenen ihre Rechte entziehen und ihre Entlassungen verschieben. Die Gremiumsmitglieder warteten, dass Çomak »Reue« zeigte, um zu beurteilen, ob er »rehabilitiert« sei. Aber der Dichter, der sein Leben für seine Ideale gegeben hatte, konnte dieses Gift nicht trinken, egal wie sehr er sich nach der Freiheit sehnte; auch er antwortete auf das geflüsterte »Bereust du?« mit einem eindeutigen »Nein« und kehrte mit schmerzender Seele in seine Zelle zurück. Das Gremium entschied einstimmig, dass »seine Strafe um weitere drei Monate verlängert« werden müsse.
Seit diesem rechtsfreien Urteil versuchen Dichter*innen und Schriftsteller*innen in der Türkei, Çomak durch Videos, in denen sie seine Gedichte vortragen, eine Stimme zu geben und auf dieses furchtbare Unrecht aufmerksam zu machen. Das ist auch ein Ziel dieser Kolumne. Ein weiteres Ziel ist, auf die »neue Art der Gefangenschaft«, die Tyrannei, aufmerksam zu machen, die Foucault bereits vor einem halben Jahrhundert beschrieb: Eine Tyrannei, die als riesige Mauer vor der Menschheit steht und darauf abzielt, nicht nur den Körper, sondern auch den Geist gefangen zu nehmen und die Unterwerfung unter ein Regime als Bedingung für Freiheit verlangt. Es scheint, dass diese Tyrannei bestehen bleibt, bis wir die Stimmen hinter dieser Mauer hören und ihnen Gehör verschaffen.
(1) https://www.gorki.de/de/can-duendarin-tiyatro-suetunu-28