CAN DÜNDARS THEATER KOLUMNE #42

CAN DÜNDAR’IN TİYATRO SÜTUNU
Zeichnung: Serkan Altuniğne



Karikatur: Serkan Altuniğne

– 2023 wurden in der Türkei 315 Frauen ermordet, bei 3.773 bewaffneten Angriffen wurden 2.318 Menschen getötet … Die Türkei landete außerdem im Korruptionswahrnehmungsindex auf dem 115. Platz …
– Mensch, gut, dass wir nicht an Eurovision teilnehmen … Gott weiß, wo wir landen würden, wenn wir das auch noch machen würden …


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NEMOS ROSA SATINROCK UND DAS EUROVISION-ABENTEUER DER TÜRKEI

Der Vorsitzende der türkischen rechtsnationalen Partei MHP, der »Führer der Grauen Wölfe« Devlet Bahçeli, hielt nach dem Eurovision Song Contest eine Rede im Parlament, in der er über die weltweite »Werteanarchie« referierte. Er sagte, dass der Anstieg des materiellen Niveaus sich nicht auf die Spiritualität auswirke, stattdessen »moralische Krisen« auslöse und die Massen in die Fänge »perverser Tendenzen« treibe. Als Beweis führte er den Wettbewerb in Malmö an, der zu einer Propagandaveranstaltung für moralische Dekadenz verkommen sei. Laut Bahçeli zeigt das »Entstehen eines dritten Geschlechts, das zwischen Mann und Frau gefangen ist, das Ausmaß der Verdorbenheit«. Doch war das noch nicht genug; Bahçeli ging noch ins Detail:

»Die Dimension der Marginalität ist erschreckend. Die verfallende soziale und kulturelle Struktur des Westens hat eine Bühne gefunden. Das Auftreten des Schweizer Preisträgers in einer Tülljacke, grellem Make-up und einem rosa Satinrock ist nichts anderes als eine Bestätigung eines beschämenden Untergangs.« 

Es ist äußerst bemerkenswert, dass ein nationalkonservativer Politiker in Ankara den*die Finalist*in eines Song Contests in Malmö so genau unter die Lupe nimmt. Während ich die Rede hörte, die von den Abgeordneten zustimmend beklatscht wurde, dachte ich zuerst: »Gut, dass Bahçeli nicht in Berlin lebt«. Dann fragte ich mich, ob er vielleicht manches anders sehen würde, wenn er in Berlin leben würde ...

Aber egal, darum soll es hier nicht gehen. Es geht darum, dass der am längsten laufende und meistgesehene Song Contest der Welt erneut ins Zentrum einer sozial-politisch-kulturellen Debatte gerückt ist, die seit Jahrzehnten in der Türkei geführt wird. Bevor ich auf diese Diskussionen eingehe, ein kurzer Ausflug in die Historie.
 

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Der Eurovision Song Contest wurde 1956 von der European Broadcasting Union (EBU), die 1950 als Zusammenschluss der westeuropäischen öffentlich-rechtlichen Sender gegründet worden war, ins Leben gerufen. Mitten in einem Kalten Krieg, als der Westen versuchte seine Wunden zu heilen und gleichzeitig eine supranationale europäische Identität zu etablieren, geht ein Unterhaltungsprogramm an den Start, das in allen Ländern gleichzeitig ausgestrahlt wird und das dazu beitragen könnte, dass verschiedene Nationen Europas die gleiche Begeisterung teilen. Die BBC-Dokumentation The Secret History of Eurovision aus dem Jahr 2011 zeigt noch einen anderen Zweck des Wettbewerbs:

Dem Publikum östlich der Mauer zu zeigen, wie glücklich die Menschen im Westen leben ...

Östlich der Mauer versuchte man zunächst zu verhindern, dass die Menschen den Eurovision Song Contest sehen; und fünf Jahre später reagierte man auf die Prahlerei mit dem Sopot Music Festival. Eine Mauer erhob sich zwischen den Musikwettbewerben, und die zwei Welten schossen mit Noten aufeinander.

Die Türkei war damals keine Partei dieses Krieges. Obwohl das Land eine riesige Armee für das Militärbündnis des Westens unterhielt, konnte es nicht Teil der Wirtschaftsunion sein und sich einer gemeinsamen kulturellen Identität nicht einmal annähern. Die Gründung der Republik sollte eigentlich ein Schritt in Richtung der Verwestlichung und Modernisierung des Landes sein, doch die Wahrnehmung des »Niedergangs der westlichen Kultur«, die Bahçeli in seiner Rede erwähnte, war in den konservativen Köpfen lebendig. Ein großer Teil der Gesellschaft vertrat schon damals die Meinung, man sollte die Technik des Westens übernehmen, sich aber von seiner Moral fernhalten. Moderne Teile der Gesellschaft hingegen hörten schon lange die Musik des Westens, tanzten dazu und fühlten sich auch der »Moral des Westens« nah.
 

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Als die Türkei 1975 zum ersten Mal am Eurovision Song Contest teilnahm, wurde der hundert Jahre alte Diskurs neu entfacht. Die erste Kandidatin war die 17-jährige Semiha Yankı. In ihrem Lied sang sie, die Liebe dauere ein Leben lang, das Liebemachen nur eine Minute. Für ihren Auftritt bekam sie ein folkloristisches Baumwollkleid angezogen und ihre blonden Haare wurden dunkel gefärbt, da türkische Frauen schließlich keine Blondinen seien. In jenem Jahr wurde Yankı in Stockholm mit nur drei Punkten die Letzte.

Das hoffnungsvolle türkische Publikum, das gebannt auf die Ergebnisse wartend auf die Bildschirme blickte, war am Boden zerstört. Es war ein katastrophaler Misserfolg vor 800 Millionen Zuschauer*innen weltweit. Eine große Debatte entflammte: Einige machten das Lied, andere die Sängerin, das Outfit oder die Frisur für das Fiasko verantwortlich, aber fast alle schienen sich sicher zu sein, dass dieses Ergebnis auf »die Feindseligkeit des Westens gegenüber der Türkei« zurückzuführen sei. Die Niederlage sei vorprogrammiert, wolle die türkisch-muslimische Identität mit dem christlichen Abendland konkurrieren. Die Türkei wäre ja das Stiefkind der europäischen Familie; natürlich müsse es verlieren.

Die Auswahl des Liedes war sogar Gegenstand einer parlamentarischen Anfrage. Das damals populärste Musikmagazin Ses kommentierte das Ergebnis des Wettbewerbs mit dem Titel »Die Kreuzrittermentalität lebt weiter«. Der Wettbewerb fand unmittelbar nach der Intervention der türkischen Armee in Zypern im Jahr 1974 statt, und Griechenland zog seinen Beitrag aus Protest gegen die Teilnahme der Türkei zurück. Wie viele Menschen in der Türkei führte auch das britische Magazin Melody Maker das Ergebnis auf die Antipathie gegen die Türkei zurück, die in Europa aufgrund des Konflikts auf Zypern erwacht war.

Die Teilnahme am Wettbewerb sollte die Türkei eigentlich näher an Europa heranführen, stattdessen führte es innerhalb der türkischen Gesellschaft zu Ressentiments gegenüber dem Westen. In den folgenden Jahren pendelte die Debatte zwischen »Wir können nicht gewinnen, weil wir nicht westlich genug sind« und »Wir verlieren unsere Identität, weil wir versuchen, den Westen nachzuahmen.« 
 

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In den nächsten beiden Jahren nahm die Türkei nicht am Wettbewerb teil. Als man den Mut für eine erneute Teilnahme wiederfand, gab es erneut politische Fußfesseln, die man nicht loswurde. 1979 fand der Eurovision Song Contest in Jerusalem statt, der damaligen Hauptstadt Israels. Da die Regierung dem Druck der arabischen Länder inmitten der Ölkrise nicht standhalten konnte, zog sie sich im letzten Moment aus dem Wettbewerb zurück.

Çetin Alp, der 1983 mit null Punkten auf dem letzten Platz landete, machte nicht sein Lied, sondern seinen Namen für die Niederlage verantwortlich: »Würde ich ›Michael‹ heißen, wäre das Ergebnis ein anderes.«

Als die teilnehmende Band 1984 den 12. Platz belegte, sagte der damalige Kulturminister: »Durch die erfolgreiche Politik unserer Regierung stieg unsere Punktezahl.«

1987 bekam die Türkei wieder null Punkte und der amtierende Premierminister Turgut Özal stellte fest: »Um zu gewinnen, muss man wohl Christ sein.«

Trotz allem hat sich die Türkei nicht vom Wettbewerb zurückgezogen. Jedes Jahr nahm sie mit neuer Hoffnung teil. Doch über ein Vierteljahrhundert lang konnte sie sich selten von den letzten Rängen heraufsingen.  

Bis 2003 ...

Im Jahr 2003 gab es eine »neue Türkei«. Die AKP hatte die Regierungsgeschäfte übernommen und Erdoğan hatte die volle Mitgliedschaft in der EU zum »prioritären Ziel« und »natürlichen Ergebnis des Modernisierungsprozesses« erklärt. Der Eurovision Song Contest war die perfekte Bühne, um die Maske des muslimischen Führers im Frieden mit Europa vorzuführen. In jenem Jahr gab die Türkei ihr Beharren auf einen türkischen Text auf und trotz Einwänden aus dem konservativen Teil des heimischen Publikums verständigte man sich auf einen englischsprachigen Song. Die Sängerin Sertab Erener, die für den Wettbewerb ausgewählt wurde, verteidigte die Entscheidung mit den Worten: »Der Weltmarkt verlangt das so.«

Mihalis Kuyucu von der Galata-Universität Istanbul schreibt in seinem Artikel über das Lied Every Way That I Can, dass durch die Verwendung exotischer türkischer Elemente in einer Komposition mit westlichen Motiven, ein hybrider Stil geschaffen wurde.

Das ist genau die Beschreibung der Türkei durch Orientalist*innen: »Eine exotische Mischung aus Moderne und Arabeske ...«

Doch Kuyucu sieht für den Sieg auch andere Faktoren: Aufgrund technischer Entwicklungen wurde das traditionelle Jury-System geändert und 1997 durch ein System ersetzt, bei dem auch das Publikum direkt per Telefon abstimmen konnte. Dank dieses »Televoting«-Systems konnten die in Europa lebenden türkischstämmigen Menschen das Ergebnis beeinflussen. Die fünf Länder mit dem höchsten türkischstämmigen Anteil an der Bevölkerung, allen voran Deutschland, vergaben dem Beitrag der Türkei die höchste Punktzahl.

Außerdem bemühte sich die Türkei in jenem Jahr auch um eine Lösung des Zypernproblems. Auf diese Weise erhielt sie zum ersten Mal in der Geschichte des Wettbewerbs Stimmen aus Zypern. Bei der Bekanntgabe der Jurypunkte sagte der Vertreter der griechisch-zypriotischen Seite: »Frieden für Zypern, acht Punkte für die Türkei.«

Vor der US-Invasion im Irak, die zwei Monate vor dem Song Contest begann, lehnte das türkische Parlament den Antrag des US-Militärs ab, Stützpunkte in der Türkei zu nutzen, was in Europa Sympathien hervorrief. In diesem Wettbewerb, der die kontinentaleuropäische Kultur gegen die US-amerikanische Kultur hervorhebt, belegte Großbritannien, das bei der Besatzung auf Seiten der USA stand, mit null Punkten den letzten Platz. Die Türkei hingegen, die sich von allen Versprechen wirtschaftlicher Unterstützung abwandte und »Nein« zu den USA sagte, belegte mit 167 Punkten den ersten Platz.
 

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Dieser Sieg gab Erdoğan eine gute Gelegenheit sich als »neuen liberalen Führer der Türkei« in Europa darzustellen. Mit überbordendem Optimismus kommentierte der noch frische Premierminister: »Dieses Ergebnis wird den Prozess der EU-Mitgliedschaft der Türkei beschleunigen.«

»Wir haben bewiesen, dass wir Europäer sind«, titelte die auflagenstarke Zeitung Hürriyet. Die konservative Presse war davon überzeugt, die Türkei habe mit diesem Ergebnis Europa erobert. Dieser Flut der Begeisterung schloss sich teilweise auch die westliche Presse an. Laut der Times war der »kranke Mann auf die Beine gekommen«.

In den nächsten 10 Jahren setzte die Türkei ihren Erfolg fort. Sieben Jahre lang war sie in den Top 10. Einige der Teilnehmenden erlangten dank des Eurovision Song Contest große Berühmtheit.

Doch ab 2013 begann der leuchtende Stern der Türkei zu verblassen. Mit der Niederschlagung der Gezi-Proteste schlug das Land den Weg in die Autokratie ein. Erdoğan entwickelte die Wahnvorstellung, der Westen wolle ihn stürzen. Die Rhetorik von »der christlichen Welt gegen die Muslime« war auf die politische Agenda zurückgekehrt. Die Türkei nahm fortan nicht mehr am Wettbewerb teil und begründete dies mit Regeländerungen im Jury-System und politisch begründeten Abstimmungen. Es gab kein Zurück. Genauso wie es kein Zurück zu den guten Beziehungen zu Europa gab. Die Aussage von Devlet Bahçeli, die er nach dem letzten Eurovision Song Contest in Bezug auf den Rock des*r schweizer Künstler*in machte, sind ein klares Zeichen für den erreichten Zustand: »Wenn das der Zeitgeist ist, dann nieder mit diesem Zeitgeist. Wenn das Modernität ist, solch eine Modernität brauchen wir nicht.«

Die Annäherung an den Westen und die westliche Kultur, wie das Eurovision-Abenteuer der Türkei, verlief parallel zum Aufstieg und Fall der AKP.

Aber hätte Nemo aus der Schweiz etwas anderes getragen, wenn sie*er gewusst hätte, dass eine Tülljacke und ein Satinrock einen solch großen sozialen Aufruhr in der Türkei verursachen würden?