Zeichnung: Serkan Altuniğne
So sind die Menschen in unserem Land, lieber Steinmeier…
Immer wenn du die Hoffnung gerade verloren hast, erschaffen sie ganz Neue…
Ich erkläre dir das gerne, vielleicht braucht ihr das ja auch mal. Du kannst deinen Leuten davon berichten, wenn du zurück bist.
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Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier fährt am 22. April zu einem Staatsbesuch in die Türkei. Wir wissen, dass Steinmeier Einladungen aus Ankara bislang unbeantwortet ließ. Er kennt die Türkei und Erdoğan aus seiner Zeit als Außenminister sehr gut und es ist kein Geheimnis, dass er nicht gerade ein Freund des »Autokraten aus Ankara« und seiner Politik ist. Als er Ende vergangenen Jahres Erdoğan in Berlin empfing, konnte man dessen Gefühlslage in seinem Gesicht lesen. Doch aufgrund der tiefen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei und weil Berlin wegen der anhaltenden Fluchtsituation von Ankara abhängig ist, rollte er für Erdoğan im Schloss Bellevue den roten Teppich aus. Nun muss er die Besuche Erdoğans, der innerhalb von sechs Jahren zwei Mal in Berlin war, erwidern. Dafür wartete der Bundespräsident auf das Ergebnis der Kommunalwahlen in der Türkei, was eine treffende Entscheidung war. Diese Wahlen bescherten Erdoğan die allererste Niederlage an der Wahlurne und deshalb gewinnt Steinmeiers Besuch in Ankara noch mehr an Bedeutung. Sowohl der »Palast« als auch die Opposition werden der Botschaft des deutschen Bundespräsidenten mit großer Aufmerksamkeit lauschen.
Seit Erdoğan in den Präsidentenpalast eingezogen ist, war fast jeder gegenseitige Besuch der Staatsoberhäupter der Türkei und Deutschlands problematisch. Vor zehn Jahren, im Jahr 2014, trat der damalige Bundespräsident Joachim Gauck bei seinem Besuch in Ankara einen kleinen politischen Skandal los. Gauck traf sich an der Orta Doğu Teknik Universität (Middle East Technical University), die für ihren revolutionären Charakter bekannt ist und an der auch ich studierte, mit Student*innen und hielt eine Rede, die bei Erdoğan Gänsehaut auslöste.
Kurz vor diesem Besuch Ende 2013 war ein großer Korruptionsskandal, in den Erdoğan und seine Kabinettsmitglieder verstrickt waren, bekannt geworden. Aber Erdoğan verteidigte sich nicht etwa, sondern zog es vor, die Polizeipräsidenten und Staatsanwälte, die die Ermittlungen leiteten, ihrer Ämter zu entheben. Erdoğan entschied, was Recht und Unrecht ist und Gauck, dessen Besuch genau in diese Zeit fiel, sagte in seiner Rede:
»Bis zu meinem 50. Lebensjahr lebte ich in einem System, in dem eine kommunistische Partei darüber entschied, was Recht war und was Unrecht. [...] Geprägt durch die Erfahrung des Gewinns der Demokratie, beobachte ich mit besonderer Sorge, wenn es irgendwo Tendenzen gibt, den Rechtsstaat und die in vielen Ländern erprobte Gewaltenteilung zu beschränken. So frage ich mich heute und hier, ob die Unabhängigkeit der Justiz noch gesichert ist, wenn eine Regierung unliebsame Staatsanwälte und Polizisten in großer Zahl versetzt und sie so daran hindert, Missstände ohne Ansehen der Person aufzudecken. Oder wenn sie danach trachtet, Urteile in ihrem Sinn zu beeinflussen oder umgekehrt ihr unwillkommene Urteile zu umgehen.«
Es war offensichtlich, wer der Adressat dieser Worte war. Erdoğan verstand und antwortete in der ihm eigenen Art und riet dem Bundespräsidenten, seine guten Ratschläge für sich zu behalten. Nach diesem angespannten Besuch konnte Ankara zehn Jahre lang keinen Bundespräsidenten mehr empfangen.
Auch die zwei Berlin-Besuche, die Erdoğan im Abstand von sechs Jahren absolvierte, waren voller Skandale. 2018 bekam auch Steinmeier das undiplomatische Rowdytum des türkischen Präsidenten zu spüren. In seiner Ansprache beim Staatsbankett im Schloss Bellevue sagte Steinmeier: »Wir wünschen uns, dass die Versöhnung der scharfen gesellschaftlichen Gegensätze auf der Grundlage von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit gelingt. [...] Und ich sorge mich auch um türkische Journalisten, Gewerkschafter, Juristen, Intellektuelle und Politiker, die sich noch in Haft befinden.« Erdoğan wich daraufhin von seinem Redemanuskript ab und konterte: »Über all das haben wir schon tagsüber gesprochen, es gab keinen Grund, dies noch einmal zu erwähnen. Ich dachte, das Bankett ist für freundschaftliche Unterhaltung gedacht, da spricht man nicht über solche Dinge.«
Bei den freundschaftlichen Unterhaltungen auf Staatsbanketten in Baku, Moskau, Dubai oder Taschkent spricht man natürlich nicht über Menschenrechte, Pressefreiheit oder Demokratie. Doch wer an »westlichen Banketten« teilnimmt, darf auch mit Kritik rechnen.
Beim letzten Staatsbesuch war es wiederum Erdoğan, der nicht mit Kritik sparte. Nach der unfairen Präsidentschaftswahl im Mai sprach Berlin hastig eine Einladung aus, ignorierte dabei die Ablehnung der Hälfte der türkischen Bevölkerung und schenkte Erdoğan einen Trumpf, den er zuhause ausspielen konnte. Auf der gemeinsamen Pressekonferenz, bei der das repressive Regime in der Türkei nicht auf der Tagesordnung stand, nutzte Erdoğan die Gelegenheit, um Hamas-Propaganda zu verbreiten und an den Holocaust zu erinnern und schoss damit gegen Bundeskanzler Scholz – mit den Worten der türkischen Presse – »ein unvergessliches Tor«.
Nach dieser aufgeladenen gemeinsamen Vergangenheit besucht Steinmeier nun also den »schwerverletzten« Erdoğan. Die Sozialdemokrat*innen sind nach fast einem halben Jahrhundert zum ersten Mal aus der Opposition heraus zur stärksten Partei geworden. Ich vermute, dass der deutsche Bundespräsident auch bei diesem Besuch in Ankara seine guten Ratschläge nicht für sich behalten und seine Beunruhigung über den Zustand der Demokratie im Land noch schärfer betonen wird.
Seit ich in Deutschland lebe, benutze ich in fast jedem Text, den ich schreibe und in jeder Rede, die ich halte, die Formulierung »die andere Türkei« und versuche damit, die demokratische Türkei zu beschreiben. Die Mehrheit in Deutschland denkt bei der Türkei vor allem an Erdoğan, der schon seit fast einem Viertel Jahrhundert an der Macht ist. Einer der Gründe dafür ist, dass er in den Medien allgegenwärtig ist. Ein anderer Grund ist, dass Erdoğan trotz seiner Launenhaftigkeit eine Politik verfolgt, die den Interessen im Besonderen Deutschlands und generell des Westens entspricht und damit ein nützlicher Partner in Verteidigung, Handel und Diplomatie ist. Fügt man noch das Bild der überwiegend konservativen türkischstämmigen Community in Deutschland hinzu, ist es nicht verwunderlich, dass die »andere Türkei« eher unbekannt ist. Die »andere Türkei«, die mehr als die Hälfte des Landes ausmacht, wurde in letzter Zeit eingeschüchtert, marginalisiert, diskriminiert, allmählich vertrieben und hat ihre Sichtbarkeit und ihre Hoffnungen verloren. Wie die Mehrheit der Wähler*innen im Inland, sahen auch die Politiker*innen und Diplomat*innen im Ausland keine Zukunft für die Opposition. Außerdem ging man davon aus, dass die Sozialdemokrat*innen, sollten sie die Regierung bilden, nicht so nützlich sein würden wie Erdoğan. Obwohl die westlichen Länder die Menschenrechte missachtenden und die Pressefreiheit zerstörenden rechtswidrigen Praktiken Erdoğans immer wieder verurteilen, verzichten sie bislang darauf, konkrete Schritte zu unternehmen, und arbeiten weiterhin mit ihm zusammen.
Doch an diesem 31. März änderte sich die Situation. In den Kommunalwahlen hat die »andere Türkei« ihr Gesicht gezeigt und hat sich den global immer stärker werdenden autoritären Tendenzen trotzend für die Demokratie entschieden. Sie hat gezeigt, dass ein Wandel durch Wahlen noch möglich ist. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Bürokrat*innen und Politiker*innen, die im Mai noch dachten, dass Erdoğan unbesiegbar und es unumgänglich sei, mit ihm weiter zu arbeiten, über das Wahlergebnis überrascht waren. Jetzt müssen sie die Demokrat*innen in der Türkei, die sie enttäuscht haben, weil sie sie in ihrem Freiheitskampf im Stich gelassen haben, zurückgewinnen. Ich denke, dass Steinmeier, der neben Istanbul und Ankara auch das Erdbebengebiet im Südosten der Türkei besuchen wird, den ersten Schritt machen wird. Ich hoffe, dass Kooperationen auf kommunaler Ebene folgen und die sozialdemokratischen Kommunalregierungen der Türkei und Deutschlands die Solidarität stärken werden; dass gemeinsame Projekte zwischen Frauenorganisationen, Parteien, Gewerkschaften, Universitäten und Kunst- und Kulturinstitutionen, die sich den Repressalien noch immer widersetzen, entstehen. Ich hoffe, dass die demokratische Partnerschaft der Zivilgesellschaften sich gegen die interessengeleiteten Partnerschaften der Regierungen stellen werden; dass die demokratischen Kräfte Deutschlands auch den Kampf um Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit, Menschenrechte und den Wiederaufbau der Demokratie in der Türkei unterstützen.
Der ehemalige Bundespräsident Gauck sagte damals in seiner Rede, aus der ich am Anfang der Kolumne zitiere: »Die Demokratie braucht den mündigen Bürger. Den Bürger, der seinen Staat trägt und um immer neue Klippen herumführt.« Die Bürger*innen der Türkei haben ein Schiff, das mit voller Wucht auf die Klippen der Autorität zusteuerte, unter schwierigsten Bedingungen umgelenkt. Ich hoffe, dass dieser demokratische Reflex ein Beispiel für die ganze Welt wird und auch das lange Schweigen Berlins endlich bricht.