CAN DÜNDARS THEATER KOLUMNE #39

CAN DÜNDAR’IN TİYATRO SÜTUNU
Karikatur

 

Zeichnung: Serkan Altuniğne

– Du hattest Recht, Can. Du hast uns schon 2018 und 2024 vor der AfD gewarnt.
– So ist es! Auf mich hört ja keiner und jetzt sitze ich schon wieder in der Scheiße.


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VON DER AKP ZUR AfD – DEBATTEN ÜBER PARTEIVERBOTE

Es war vor sechs Jahren. Am 27. Mai 2018 kamen wir mit der ehemaligen Bundesverfassungsrichterin Susanne Baer auf der Gorki-Bühne zu einer Diskussionsveranstaltung zusammen. Baer, die eines von 16 Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts war, ist als feministische Juristin bekannt, die sich in ihren Werken unter anderem mit Themen wie Genderstudien und Antidiskriminierung beschäftigt. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe Berliner Korrespondenzen, die das Gorki Forum in Zusammenarbeit mit der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Auswärtigen Amt veranstaltete, trafen wir uns zu einem Panel. Der Titel dieser Veranstaltung war sehr interessant: »Wie viel Ordnung verträgt die Freiheit?« Aus der Sicherheitsperspektive wurde diese Frage bislang anders herum gestellt: »Wie viel Freiheit verträgt die Ordnung?« Nun aber ging es darum, den Stacheldraht, der an den Grenzen der Freiheit gezogen wurde, infrage zu stellen.

Das von Esra Küçük moderierte Panel war äußerst aufschlussreich. (Interessierte können das Transkript in dem gleichnamigen Buch, das bei NP&I erschien, nachlesen.) Der Teil über Parteienverbote ist meines Erachtens auch für die aktuellen Debatten sehr bedeutend. Zufälligerweise waren für denselben Tag Großdemonstrationen in Berlin geplant. Eine von der AfD angemeldete Demo traf auf eine große Gegendemonstration. Die folgende Diskussion sollte sich auch aus diesem Grund stark um die AfD drehen. Die Polizei war in Alarmbereitschaft und die Straßen nach Mitte gesperrt. Der damalige Leiter der Abteilung Kultur und Kommunikation des Auswärtigen Amtes, Andreas Görgen, befürchtete deshalb, dass ich Probleme bei der Anfahrt zum Gorki haben würde und bot mir freundlicherweise an, mich auf dem Motorrad mitzunehmen. Nur so habe ich es rechtzeitig zum Panel geschafft. Ich begann meine Keynote mit einer Reihe provokativer Fragen:
»Kann eine Partei, die die Demokratie bedroht in der Demokratie bestehen?«
»Kann die Demokratie eine Bewegung, die sie stürzen will, tolerieren?«
»Was müssen wir tun, wenn solch eine Partei, die Möglichkeiten der Demokratie nutzend, Chancen auf die Macht hat, oder sogar die Regierung bilden kann?«

***

In der Türkei hatten wir entsprechende Erfahrungen bereits gemacht.

Die AKP, die im Jahr 2001 gegründet wurde, kam 2002 mit 34,5% der Stimmen an die Macht. 2007 waren es schon 46,5%. Das war eine außerordentliche Erfolgsgeschichte. Nach der Wahl 2007 wurde eine Klage vor dem Verfassungsgericht eingereicht, in der die Schließung der Partei gefordert wurde. Grund dafür war, dass »die AKP in den Fokus von Aktionen gegen den Säkularismus gerückt« war. Die Klageschrift beinhaltete eine lange Liste von Handlungen und Äußerungen von Parteifunktionären, die darauf abzielten, die Grundprinzipien des Staates und des säkularen Systems zu ändern, und betonte, dass das ultimative Ziel der Partei die »Scharia« sei.

Erdoğan vertrat die Meinung, die Entscheidung über die Verhüllung einer Frau obliege den Religionsgelehrten, nicht der Justiz. In einigen Gegenden Istanbuls wurde die Regelung eingeführt, Straßen, in denen Lokale Alkohol ausschenkten, als »rote Straßen« zu kennzeichnen.

Nachdem die Klage für ein Parteiverbot eingereicht worden war, konzentrierte sich die Debatte auf zwei Fragen:

Würde das Verbot einer Partei, die die Stimmen von fast der Hälfte des Volkes erhalten hatte, nicht bedeuten, dass der Wille des Volkes missachtet und politische Strukturen blockiert würden? Und würde eine solche Entscheidung nicht die wirtschaftliche Stabilität zerrütten?

Für mich war es wichtig, diese Fragen mit einem Mitglied des Verfassungsgerichts zu diskutieren. Ich fasste die Debatte, die vor elf Jahren in der Türkei stattfand, und meine damalige Position zusammen und setzte mich mit dem Fall eines Parteiverbots in zwei Dimensionen auseinander, der rechtlichen und der politischen.

Rechtlich gesehen war die Situation klar: Das Gericht konnte sich nicht davon leiten lassen, wie viele Stimmen eine Partei erhielt, ob sie an der Macht oder in der Opposition war oder welche wirtschaftlichen Folgen ein Verbot haben könnte. Es war gezwungen, Ohren, Augen und Herzen vor der Außenwelt zu verschließen und nur den Vorgaben der Verfassung und der Gesetze zu gehorchen.

Politisch war die Situation jedoch anders. Die türkische Politik ist ein Friedhof verbotener Parteien. Fast alle kehrten nach einer Weile gestärkt zurück. Diejenigen, die nicht zurückkehrten, gingen in den Untergrund und wurden gefährlicher. Die Bürger*innen, die die verbotenen Parteien gewählt hatten, verloren das Vertrauen in die Politik, weil sie sahen, dass das System ihren Willen missachtete. Kurz gesagt, eine Partei zu verbieten, war politisch ein »Schuss nach hinten«.

Aus diesen Gründen war ich damals gegen ein Verbot der AKP. Mit dieser Meinung zog ich die Reaktion säkularer Kräfte auf mich, insbesondere die meiner Ehefrau. Leuten wie mir wurde vorgeworfen, »romantische Demokraten« oder »Süßwasserliberale« zu sein, die sich der drohenden Gefahr nicht bewusst seien. 

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Der Prozess gegen die AKP endete im Sommer 2008. Sechs der elf Mitglieder des Verfassungsgerichts stimmten für ein Verbot, fünf sprachen sich dagegen aus. Für die Beschlussfassung war aber eine »qualifizierte Mehrheit« erforderlich. Mit anderen Worten: Die AKP entkam dem Verbot mit nur einer Stimme. Mit zehn zu einer Stimme entschied das Gericht jedoch, dass die Finanzhilfen für die Partei um die Hälfte gekürzt werden sollten.

Beflügelt durch das Urteil brachte Erdoğan 2010 eine Reihe von Verfassungsänderungen in ein Referendum ein. Diese Änderungen würden das Verfassungsgericht umstrukturieren und Parteienverbote erschweren.

Durch die Änderung der Struktur des Rates, der über die Ernennung von Richter*innen und Staatsanwält*innen entscheidet, hatte Erdoğan die Chance, die Justiz zu übernehmen. In einer raffinierten Taktik fügte er dem Referendumspaket noch eine Klausel über den »Prozess gegen Putschisten« hinzu, um die Stimmen der Liberalen zu gewinnen. Er legte das Referendum zeitlich auf den Jahrestag des Militärputsches von 1980, auf den 12. September, und versteckte einen Justizputsch in einem »demokratischen Reformenpaket«. Bei diesem Referendum, bei dem ich mit »Nein« gestimmt habe, stimmten 58% der Menschen mit »Ja«. Nach diesem Ergebnis, das von der Europäischen Union enthusiastisch unterstützt wurde, übernahm Erdoğan weitestgehend die Kontrolle über die Justiz. Es gab nur noch eine Festung, die er nicht erobern konnte: das Verfassungsgericht. Also trat er in einen offenen Krieg mit ihm. 

Im Jahr 2015 wurde ich durch Ermittlungen eines regierungstreuen Staatsanwalts, und den Beschluss eines Richters im Dienste der Partei, inhaftiert. Im Jahr 2016 entschied das Verfassungsgericht, dass der Haftbefehl rechtswidrig sei, und ordnete meine Freilassung an. So erlangte ich meine Freiheit wieder. Natürlich raste Erdoğan vor Wut: »Ich akzeptiere diese Entscheidung nicht, ich respektiere sie nicht, ich halte mich nicht daran«, sagte er. Aber er musste sich fügen. Erdoğan rächte sich nach dem versuchten Militärputsch vom 15. Juli 2016, den er als »Gottes Segen« bezeichnete. Das Erste, das er nach der Niederschlagung des Putsches veranlasste, war die Verhaftung der Verfassungsrichter, die für unsere Freilassung gestimmt hatten. Diese Richter sitzen immer noch in dem Gefängnis, aus dem sie mich frei ließen.

2017, in einem neuen Referendum, schaffte Erdoğan das parlamentarische System ab, wechselte zu einem »Türkischen Präsidialsystem« und rief sein Sultanat aus. Seither erkennt er die Entscheidungen des Verfassungsgerichts nicht mehr an. Erst im letzten Monat ließ er die Entscheidung des Gerichts, einen inhaftierten, gewählten Abgeordneten freizulassen, nicht durchsetzen. Zurzeit arbeitet er an einer Verfassungsänderung, die die Befugnisse des Verfassungsgerichts vollständig einschränken würde. Sein ultranationalistischer Partner, die MHP, hat bereits eine Kampagne gestartet, in der es heißt: »Das Verfassungsgericht sollte vollständig geschlossen werden.« 16 Jahre nach dem Prozess gegen die AKP bereitet sich Erdoğan darauf vor, jene demokratische Instanz zu beseitigen, die seine eigene Partei nicht verbieten konnte.

***

Auf dem Podium im Gorki erklärte ich, dass ich heute anderer Meinung bin, was das Verbot von Parteien angeht. Ich sagte: »Ich wünschte, sie wäre damals verboten worden.« Ein heimtückischer politischer Organismus, der nicht an die Demokratie glaubt, hat die Demokratie zerstört, indem er die Mittel der Demokratie ausgenutzt hat.

Die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Justiz und die Rechtsstaatlichkeit gibt es in der Türkei nicht mehr. Erdoğan hat Richter*innen und Staatsanwält*innen, Kommandanten, Polizeichefs, Mafia-Bosse, Milizen. Er hat Chefredakteur*innen, Journalist*innen, Rektor*innen, Unternehmer*innen. Und uns wird der geringste rechtliche Schutz vorenthalten. Wir haben die letzten Institutionen einer Demokratie verloren, die ohnehin kaum noch funktionierte. Heute glaube ich, dass eine aktive Demokratie das Recht hat, sich selbst zu verteidigen. Egal, wie viel Unterstützung es in der Bevölkerung für ihre Bedrohung gibt. 

Nach meiner Rede fragte unsere Moderatorin Küçük die Verfassungsrichterin Baer, wie sie die AfD-Frage angesichts dieser Argumente sehe. Baer nutzte die Sprache der Prinzipien, ohne jegliche Voreingenommenheit:    

»Verfassungs- und Menschenrechtsschutz lebt davon, dass Populismus sich nicht durchsetzt. Denn Populismus ist ressentimentgetriebene Herrschaft einer Mehrheit. Der populistische Rechtstaatsbegriff hat mit meinem Rechtsstaatsbegriff nichts zu tun. Wir müssen den Rechtsstaat politisch verteidigen und dürfen ihn nicht allein den Gerichten überlassen. Die Türkei zeigt erschütternd, wie dringend wir das im Moment brauchen. Ich muss in der Zeit, in der ich lebe, diesen Rechts- und Verfassungsstaat mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen. Denn er ist, wenn er in der Türkei bedroht ist, auch hier und in Straßburg bedroht. Das ist eine Erosion, die wir sehr schnell bekämpfen müssen.«

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Ich verfolge die aktuellen Debatten rund um ein Parteiverbot der AfD in Deutschland mit großem Interesse. Ich lese Kommentare über ein mögliches Erstarken der Partei, über die mögliche Verletzung des Votums der Wähler*innen, oder den möglichen Gang in den Untergrund der Partei, mit einem bitteren Lächeln auf den Lippen und hoffe, dass es nicht zu spät sein wird, wenn die Reue kommt.