Zeichnung: Serkan Altuniğne
– Dieses Klavier ist genau das richtige für Sie. Auf ihm wurden noch nie Werke von armenischen oder kurdischen Komponisten gespielt.
– Großartig! Das kaufe ich…
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Ich möchte Ihnen die Geschichte einer Sopranistin erzählen. Eine kurdische Sopranistin, die seit 2016 in Deutschland lebt: Pervin Chakar. Eine erfolgreiche Opernsängerin, die mehrfach preisgekrönt wurde. Eine stolze Stimme, die Anatolien der Welt geschenkt hat. Doch im letzten Monat hat der türkische Staatssender TRT alle Aufnahmen von Chakar aus dem Archiv gelöscht. Warum? Weil der Vorsitzende der größten Oppositionspartei auf ihrem Konzert war ...
Ich muss früher in der Geschichte anfangen, eine Geschichte von Erfolg und Rache, die alle gehört haben sollten:
Pervin ist in der kleinen Stadt Derik in der Provinz Mardin geboren, für mich einer der schönsten Orte der Welt. Sie ist das erste von fünf Kindern. Ihre Kindheit verbringt sie an der »wilden« Schwarzmeerküste. Ihre Muttersprache bleibt ihr verborgen wie ein verbotenes Buch. Später zieht die Familie nach Bismil, einer Stadt, die einem unendlichen Tal gleicht. Dort beginnt sie sich für Volksmusik zu interessieren. Als sie auf die Oberschule geht, zieht die Familie erneut um; dieses Mal nach Diyarbakır. In einem Interview der Online-Zeitung Duvar beschreibt sie Diyarbakır als »eine helle Einsamkeit umringt von dunklen Steinen«. Vielleicht beginnt gerade hier die Rückkehr zu ihren Wurzeln. Pervin wird am Gymnasium der Schönen Künste zur Musiklehrerin ausgebildet. Als eine ihrer Kompositionen einen Preis erhält, fährt sie zur Preisverleihung nach Ankara. Bei der Preisverleihung singt sie ein paar Lieder und man entdeckt ihre »Opernstimme«. Mit 16 Jahren hört sie dort zum ersten Mal das Wort »Oper« und kehrt nach Diyarbakır mit einer CD von Maria Callas, die sie geschenkt bekam, zurück. Da sie aber keinen CD-Player besitzt, kann sie sie erst einmal nicht hören. Jahre später, als sie an der Gazi Universität in Ankara ihr weiterführendes Studium zur Musiklehrerin aufnimmt, kann sie sie endlich hören und sie verliebt sich in die Oper. Die Universität beendet sie im Hauptfach Gesang.
Mardin – Karadeniz Ereğlisi – Fatsa – Bismil – Diyarbakır – Ankara … All die Umzüge, die das erste Viertel ihres Lebens prägen, beschreibt Pervin so:
»Wenn Sie so lange umherziehen, finden Sie ihr Zuhause in den Dingen, die Sie in ihrem Bündel auf dem Rücken, in den Zimmern ihrer Seele, in der Kiste ihrer Erinnerung, gesammelt haben. Sie verarbeiten alles in größter Feinheit in ihrem Inneren; denn Sie wissen, dass sie die Geräusche, die Farben, die Dinge, die Stimmungen, die Worte und die Gerüche verlieren werden. Das bietet eigentlich eine großartige Chance für das Gedächtnis. Sie erkennen die Bedeutung der Wege, die Sie gehen, die Schwellen, über die Sie treten, die Orte, an denen Sie sich befinden, die Dinge, die Sie berühren. Der Weg wird ihr Lehrer.«
Während sie an der Oper in Ankara arbeitet, bekommt sie ein Angebot aus Italien und beginnt ihr »zweites Leben« in Rom.
Neben Jobs als Kellnerin, Barmaid, Übersetzerin und Touristenführerin, arbeitet sie an der Accademia d’Arte Lirica und der Accademia Internazionale Musicale di Perugia. Das staatliche F. Morlacchi Konservatorium beendet sie mit der Note »sehr gut«. 2006 tritt sie das erste Mal in Italien auf. Es folgen weitere Rollenangebote, Einladungen, Preise ... In Irland singt sie in Der Barbier von Sevilla, in Macerata in Carmen und Ein Sommernachtstraum. In Paris erhält sie den Preis »Goldener Orpheus«, in New York wird sie zur Sängerin des Jahres gekürt.
Sie sagt, »Während ich in Rom in den größten Opernsälen Arien sang, hatte ich immer die unendlichen Weiten meiner Täler und meine unendlich hohen Berge im Sinn.« Als sie ihren Koffer aus Anatolien nach Europa trägt, beginnt sie ihre Wurzeln zu erforschen und sich selbst zu fragen: »Wohin gehört der Mensch eigentlich? Zu einem Haus? Zu einer Straße oder einer Stadt? Mein Land ist meine Sprache. Das Zuhause meines Daseins ist meine Sprache. Ich bin eine Schnecke, die ihr Haus auf dem Rücken trägt und in ihr Land gehen möchte.«
Sie beginnt zu verstehen, wer sie ist, als sie İbrahim Halil Barans Zeilen liest: »Ach! Jeder Mensch gleicht seinem Land ...«
»Ich bin genau wie Kurdistan: In Stücke gerissen, umher verteilt, verboten, die Zunge abgeschnitten, aber stolz mit erhobenem Haupt ...«
Das Exil entfernt den Menschen von der Erde, in die er geboren wurde; aber wenn der Körper vom Land getrennt wird, schmeichelt sich das Herz tiefer ein.
Pervin Chakar erklärt, was ihr ein Märchen, das ihre Mutter erzählte, bedeutet:
»Es war einmal ein Kind, das sich einen Esel aus Schlamm erschuf, um aus dem Land der Dunkelheit ins Land des Lichts zu reiten und seinem Volk die Sonne zu bringen. Immer wenn der Schlamm trocknete, fielen Teile vom Esel ab und die Reise wurde unterbrochen. Das Kind wurde nicht müde, seinen Esel neu zu erschaffen, doch als es der Sonne näher kam, zerfiel der Esel vollends in Staub. Schließlich erkannte das Kind, dass es dem Esel ein längeres Leben geben konnte, wenn es sein eigenes Blut in den Schlamm mischte. Dieses Märchen gab mir das Gefühl, dass ich immer weiter machen muss und niemals aufgeben darf. Mein Volk wird als eigensinnig charakterisiert. Und meine Passion ist aus dem Wunsch geboren, das Licht und die Sonne zu erreichen. Wenn ich Callas oder Corelli höre, stelle ich mir vor, ein Kind zu sein, das auf einem Esel aus Schlamm reitet, um seinem Volk die Sonne zu bringen. Der Schlamm ist mein Land. Als jemand, die aus dieser Erde stammt, versuche ich, mit meiner Kunst, dieses kurdische Märchen weiterzuleben und das Licht zu erreichen.«
Das Kind, das auf dem Rücken eines Esels aus Schlamm reitet, hat seit dem Beginn seiner Reise immer versucht, in der Welt der Kurden, deren Identität ignoriert wird, die Schreckliches erleiden müssen, schikaniert werden, deren Sprache verboten ist und deren Kinder getötet werden, eine »kurdische Opernsängerin« zu sein. Das Kind hat sich gewünscht, dass auch die Kurden eine Oper haben und sie es singen kann.
»Jahrelang habe ich verschiedene Sprachen gelernt, habe in verschiedenen Sprachen Operetten, Arien, Chansons und Lieder gesungen. Aber meine eigene Sprache ... Meine Muttersprache ... Es ist die Sprache, in der es mir schwerfällt, zu sprechen. Jetzt führen mich all meine Reisen dorthin. Zu meinem Land, meinem Volk, meiner Mutter und zu den Liedern, die meine Kindheit geprägt haben ...«
Pervin Chakar erreicht auf ihrer Reise endlich das Licht als sie zusammen mit der Jungen Philharmonie Köln das Werk Ay Dîlberê des kurdischen Dichters Feqiyê Teyran als Oper aufführt. 2019 steht sie auch auf der Bühne des Gorki, als sie zum 150. Geburtstag des armenischen Komponisten Gomidas dessen kurdische Lieder singt. 2023 präsentiert sie das kurdische literarische Meisterwerk Mem û Zîn als Oper auf dem internationalen Maifest in Hessen. Ein Traum wird wahr.
Doch in der Türkei bleibt kein Erfolg ungestraft und Pervin Chakar erntete Drohungen anstatt Applaus. Denn sie hatte in einem Interview daran erinnert, dass Kurd*innen mit Türk*innen eine Heimat teilen, dass die Kurd*innen die Sprache, die Kultur und Traditionen der Türk*innen kennen, die Türk*innen hingegen nicht etwa die kurdische Sprache und Kultur kennenlernen wollen, sondern vielmehr sie zu vernichten versuchen. In einem anderen Interview sagte sie, dass die materiellen und immateriellen Reichtümer des kurdischen Volkes sowie deren musikalische Werke geplündert werden.
Diese Interviews wurden, als sie erschienen, kaum beachtet, doch im letzten Monat plötzlich wieder ausgegraben. Denn der neue Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, Özgür Özel war mit der Vorsitzenden einer anderen Oppositionspartei HDP, Pervin Buldan in Istanbul auf einem Konzert Pervin Chakars mit dem Titel Eine Opernnacht.
An jenem Abend hörte man Arien von Komponisten wie Ravel, Delibes, Lehár, Bellini, Strauß, Massenet, Brahms und Dvořák. Sie sang Lieder auf Deutsch, Tschechisch, Italienisch, Französisch und Kurdisch. Am Ende des Konzerts verneigte sich Özel vor Chakar und küsste ihre Hand. Diese Geste veranlasste die staatstreuen Medien zu einem Shitstorm. Ihre früheren Aussagen wurden nochmals veröffentlicht, Chakar zur »Türkei-Feindin« erklärt und ihre Aufnahmen aus den Staatsarchiven gelöscht. Danach begannen rassistische Angriffe. Der Vorsitzende der ultra-rechtsnationalistischen Partei MHP, Devlet Bahçeli kritisierte Özel mit den Worten: »Ich möchte den Vorsitzenden der CHP, der einer separatistischen sogenannten Künstlerin ehrfürchtig die Hand küsste und danach sagte, ›Pervin Chakar ist unsere Ehre und unser Stolz‹, daran erinnern, dass unsere Ehre und unser Stolz die türkische Nation ist.« Der Vorsitzende der rechtsradikalen Zafer Partei, Ümit Özdağ »beschuldigte« sie, kurdische Kompositionen des »Türkeifeindlichen« armenischen Priesters Gomidas zu singen. Auch der Pianist und Komponist Fazıl Say, der Chakar mit den Worten »Sie ist eine sehr gute Sopranistin und meine Schwester. Niemand kann ihr das absprechen« verteidigte, bekam seinen Teil des Shitstorms.
Chakar reagierte auf die rassistische Kampagne gegen sie:
»Zu meinen Konzerten sind bisher Politiker*innen mit den verschiedensten Ansichten gekommen. König Charles und seine Frau Camilla beehrten meine Vorstellung in Venedig. Der irische Präsident besuchte eine Aufführung in Lismore. Der ehemalige irakische Präsident war auch auf einem meiner Konzerte. Das ist für mich ganz selbstverständlich.«
Die Reaktionen auf eine kurdische Opernsängerin beweisen, dass die homogene kulturelle Hegemonie und die Intoleranz gegenüber Andersdenkenden in der türkischen Republik, die in diesem Jahr ihr 100-jähriges Bestehen feiert, immer noch gegenwärtig ist. Doch prallten sie, wie die Hasskampagne, an einer stolzen Künstlerin mit erhobenem Haupt ab, die ihre Kunst, ihre Kultur und ihre Sprache verteidigt.
Die Türkei steckt fest in Schlamm und Staub. Aber die Hoffnung besteht, dass dieser Staub, wie in jenem alten kurdischen Märchen, ein Zeichen dafür ist, dass sich der blutende Esel der Sonne nähert.