Can Dündars Theater Kolumne #30

Can Dündar im Brecht-Haus

Can Dündar
 

Köşe yazısının Türkçe orijinal metni için tıklayınız.

Brechts Bibliothek

Im Sommer letzten Jahres habe ich von der Regisseurin Hedwig Schmutte, die gerade an einem Dokumentarfilm für arte arbeitete, eine Nachricht erhalten. Sie fragte mich für einen Dokumentarfilm über Brechts Zeit im Exil an. (1)

Seit meiner Jugend habe ich fast alle Theaterstücke von Brecht gesehen, seine Gedichte gelesen, seine Bücher archiviert, aber natürlich bin ich kein Brecht-Experte.

Ich fragte, warum ich?

Sie antwortete: »Wir denken, dass Ihre Perspektive wegweisend sein kann, um zu verstehen, was Brecht erlebt hat.«

Als wir uns trafen, zeigte sie mir ein Foto. Es war das letzte Foto von Brecht, bevor er Berlin verließ. Es muss am 28. Februar 1933 aufgenommen worden sein. Am Tag nach dem Reichstagsbrand.

Der Dichter war erst 34 Jahre alt. Gut gekleidet sitzt er am Schreibtisch vor seiner Bibliothek; seinen Koffer gepackt, wartet er auf den Abschied.

Hedwig Schmutte sagte: »Wir dachten, dass Sie am besten beschreiben können, was er in diesem Moment in diesem Raum gefühlt haben muss.« 

Um ehrlich zu sein, wusste ich damals, als ich mein Haus verlassen habe, noch nicht, dass ich für eine unbestimmte Zeit nicht in mein Arbeitszimmer zurückkehren können werde. Brecht hatte Berlin einen Tag nach dem Reichstagsbrand verlassen; ich war im Ausland, als ich erfuhr, dass das türkische Parlament bombardiert wurde. Aufgrund der Hetzjagd, die dem gescheiterten Putschversuch 2016 folgte, konnte ich nicht zurück in mein Land. Deshalb hatte ich auch nicht die Chance, mich von meinem Haus, meinem Arbeitszimmer, meinen Büchern zu verabschieden und ein letztes Foto an meinem Schreibtisch zu machen. Aber es ist nicht schwierig, anzunehmen, was Brecht in dem Moment gedacht haben muss:

»Werde ich bei der Ausreise verhaftet?«
»Was wird mit mir passieren, wenn ich erwischt werde?«
»Was passiert mit jenen, die ich zurücklasse?«
Und vor allem: »Werde ich je zurückkehren können?

***

Stefan Zweig schreibt am Ende seiner berühmten Tagebücher: »Gepackt, oder doch vorbereitet. (...) Es ist vorbei. Europa erledigt, unsere Welt zerstört. Jetzt sind wir erst wirklich heimatlos.«

Das Land, das man liebt, in dem man aufgewachsen ist, die Wohnung, in der man lebt, die Menschen, die man liebt, zu verlassen, ist immer schmerzhaft. Aber Menschen, die aus ihrer Sprache gerissen werden, von ihren Bibliotheken, von denen ihr Verstand sich nährt, denen werden tiefe Wunden in ihre Seelen geschlagen. Autor*innen, die keine Bibliothek mehr haben, fallen in eine Leere, wie Weise, die ihr Gedächtnis verloren haben. In der Stadt, in der man im Exil ist, kann man eine neue Wohnung mit Second-Hand-Möbeln und einem gebrauchten Fernseher einrichten. Eine Second-Hand-Bibliothek aber gibt es nicht. Jedes Buch birgt eine Erinnerung: Man erinnert sich an das Jahr, in dem man es gekauft und gelesen hat, an die Person, die einem das Buch schenkte. Auf den abgeknickten Seiten, den unterstrichenen Zeilen sind Sätze verborgen, die das vergangene und heutige Ich ausmachen. In einer getrockneten Nelke, die zwischen den Seiten vergessen wurde, ist noch der Duft einer vergangenen Liebe.

Auch wenn die Generation der Digital Natives eine ganze Bibliothek auf einer Harddisk mit sich tragen kann, ist für meine Generation, die auswendig weiß, welches Buch in welchem Regal steht, die Bibliothek ein Tempel. Ein Tempel aus Papier, das in Jahrzehnten Buch für Buch aufgebaut und seinem*seiner Besitzer*in ein Kokon geworden ist.

Was es noch schmerzhafter macht ist, dass Bücherhasser den Tempel stürmen, nachdem man weggegangen ist. Sie zerstören die Bibliothek und durchsuchen sie. Dann sammeln sie die »verdächtigen« Werke, die die »bedrohlichen Gedanken« aufschreiben ließen, ein und nehmen sie mit. Später erfährt man entweder wie Brecht, dass die Bücher auf einem öffentlichen Platz verbrannt wurden, oder wie ich, dass sie vom Markt genommen und vernichtet wurden.

Doch die Bücher, die der*die Exilant*in nicht mit sich tragen kann, tragen das Exil in die Ewigkeit. Von Puschkin über Dante, von Edward Said über Stefan Zweig und Nâzım Hikmet bis hin zu Herta Müller, haben viele Autor*innen Meisterwerke im Exil geschrieben und damit eine Exilliteratur geschaffen, mit der sie eine gigantische »Exilbibliothek« errichtet haben.

Schlage keinen Nagel in die Wand
Wirf den Rock auf den Stuhl.
Warum vorsorgen für vier Tage?
Du kehrst morgen zurück.

Als Brecht diese Zeilen schrieb, war er schon seit vier Jahren im Exil. »Morgen« war erst 15 Jahre später. In meinem siebten Jahr des Exils denke ich jedes Mal, wenn ich einen Nagel in die Wand schlage, an dieses Gedicht.

***

Das Exil ist ein Warteraum. Sie warten sehnsüchtig auf den Tag, an dem in Brechts Worten »die Nachricht, die dich heimruft in bekannter Sprache geschrieben ist«. Während des Wartens bauen sich die einen, wie Nâzım Hikmet, eine neue Bibliothek in ihrem neuen Land auf. Andere, wie Bertolt Brecht, ziehen von Land zu Land und von Stadt zu Stadt in alle vier Himmelsrichtungen. Sie werden es müde auf einen Pass zu warten, der sie auf einen anderen Kontinent bringt. Der Dokumentarfilm von Hedwig Schmutte, der letzten Monat Premiere hatte, erzählt detailliert von Brechts schmerzhaften Jahren im Exil.

Adorno, der auch ein Exilant war, sagt: »Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl gar das Schreiben zum Wohnen.« Viele von uns sind Bürger*innen dieses »Lands des Schreibens«; unsere Bücher sind unsere Pässe. 

Das Brecht-Haus war einer der ersten Orte, die ich in Berlin besuchte. In dieser hellen Wohnung mit den hohen Decken ging ich durch das Zimmer, in dem er starb und betrachtete den kleinen Schreibtisch am Fenster, die Olivetti auf dem Tisch, die letzte Zeitung, die er las und die nun die Totenwache zu halten scheint, und seine Bibliothek mit den viertausend Büchern.

Es dauerte 15 Jahre, bis er nach Deutschland zurückkehren konnte, aber seine Hoffnung lief der Rationalität immer voraus. Sein Gedicht Gedanken über die Dauer des Exils ist das Lied des ewigen Traums der Rückkehr:

Lass den kleinen Baum ohne Wasser.
Wozu noch einen Baum pflanzen?
Bevor er so hoch wie eine Stufe ist
Gehst du fort von hier.

Während ich das Gedicht gerade wieder einmal las, sah ich auf das Bäumchen, das ich auf dem Balkon gepflanzt habe. Es ist fast so hoch wie eine Stufe. Die Nachricht, die mich in bekannter Sprache heimruft, hat sich verspätet. Wie es wohl meiner Bibliothek geht?

 

__________

(1) arte-Film: Bertolt Brecht - Flüchtlingsgespräche