Mir fällt ein geiler Tweet ein, aber das gilt bestimmt als Beleidigung… Mist, das wäre so ein toller Tweet geworden… Vielleicht sollte ich es dem Präsidenten der USA oder dem britischen Premier schicken, damit sie es nutzen, dann wäre es nicht schade um den geilen Tweet…
Zeichnung: Serkan Altuniğne
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Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte bei seiner Rede zur Wiederwahl: »Überparteilich werde ich sein, ja – aber ich bin nicht neutral, wenn es um die Sache der Demokratie geht. Wer für die Demokratie streitet, der hat mich auf seiner Seite. Wer sie angreift, wird mich als Gegner haben!«
Eigentlich hatte er vor dreieinhalb Jahren jemanden vor sich, der die Demokratie ständig angreift. Bei seiner Tischrede während des Staatsbesuchs von Präsident Erdoğan im Schloss Bellevue sagte er: »(...) heute suchen beunruhigend viele aus der Türkei bei uns Zuflucht vor wachsendem Druck auf die Zivilgesellschaft« und drückte seine Sorge über die Journalist*innen, Gewerkschafter*innen, Jurist*innen, Intellektuelle und Politiker*innen aus, die sich noch in Haft befinden.
Nach seiner Reise nannte Erdoğan dies »unschicklich«. Wenn in der Türkei jemand, wie Steinmeier es tat, sagen würde, dass Erdoğan ein repressives Regime errichtet, stünden schon am nächsten Morgen Polizisten vor der Tür. Denn der türkische Präsident ist in diesen Dingen überaus empfindlich... Schon die leiseste Kritik empfindet er als Beleidigung.
Laut neuester Statistiken wurden während Erdoğans Amtszeit gegen 160 Tausend Menschen wegen »Präsidentenbeleidigung« Ermittlungen angestellt. Bei etwa 40 Tausend kam es zur Anklage. Fast 4.000 wurden schuldig gesprochen. 2.600 wurden verhaftet. Dies macht Erdoğan zum »meistbeleidigten Präsidenten der Welt«.
In der Türkei kann er dazu nicht befragt werden. Während seiner USA-Reise antwortete er auf die Frage eines CBS-Reporters, wie es denn zu diesen Rekordzahlen komme: »Und Sie glauben das? Sie werden auch belogen.« (Wenn ich jetzt sagen würde, »und das war eine Lüge«, hätte auch ich eine neue Klage am Hals.)
Hier sind einige Beispiele, was als »Präsidentenbeleidigung« gilt:
Zum Beispiel wurde der Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu auf zwei Millionen Lira verklagt, weil er sagte: »Wenn er sein Land liebt, soll er sein Vermögen in die Türkei bringen.«
Selahattin Demirtaş, ein weiterer Oppositionspolitiker, fand sich vor Gericht wieder, weil er sagte: »Anstatt seine Fehler anzuerkennen, sorgt er für Tod, Blut und Tränen.«
Eine Karikaturzeitschrift wurde bestraft, weil der Präsident dort als diverse Tiere dargestellt wurde und auch Studierende, die diese Karikaturen aus Protest als Plakate auf ihrer Abschlussfeier trugen, wurden wegen Beleidigung angeklagt.
Die Künstlerin Zuhal Olcay wurde verurteilt, weil sie Erdoğan meinend ein beleidigendes Handzeichen gemacht haben soll, der Journalist Hüsnü Mahalli, weil er ihn als »Diktator« bezeichnet hat, der Filmregisseur Mustafa Altıoklar, der auch Mediziner ist, weil er ihm eine narzisstische Persönlichkeitsstörung diagnostizierte.
Ich wurde wegen Beleidigung des Präsidenten und seines Sohnes verurteilt, weil ich einen staatsanwaltlichen Bericht über Bestechung und Korruption veröffentlicht habe.
Der Journalist Onur Erem wurde zu 11 Monaten und 20 Tagen verurteilt, weil er geschrieben hat, dass Google als automatische Vervollständigung »Erdoğan« und »AKP« vorschlägt, wenn man in die Suchleiste »Mörder« oder »Dieb« eingibt. Gegen Google wurden bisher noch keine Ermittlungen aufgenommen.
Ein Bettler aus Antalya, der wegen »Präsidentenbeleidigung« angeklagt wurde, konnte der Strafe gerade noch entgehen, weil er beim Prozess aussagte, dass der Cousin seiner Ehefrau auch Erdoğan hieße, und dass er ihn gemeint habe und nicht den Präsidenten.
Als Erdoğan an Corona erkrankte, wurde gegen die User, die den Hashtag »#Helva« (eine Süßspeise, die in der Türkei zu Beerdigungen gereicht wird) posteten, ermittelt.
Zuletzt stand bei der Journalistin Sedef Kabaş die Polizei vor der Haustür, weil sie in einer Fernsehsendung ein tscherkessisches Sprichwort zitierte, das besagt: »Nur weil der Ochse in den Palast zieht, wird er noch lange nicht König. Aber der Palast wird zum Stall.« Kabaş ist in Untersuchungshaft und nur wegen dieses Zitats verlangt der Staatsanwalt eine Haftstrafe von 12 Jahren und 10 Monaten für sie.
Diese Beleidigungsklagen sind zu einem großen Hindernis für die Meinungsfreiheit geworden. Interessant ist, dass Erdoğan in jeder Kritik, die seine Landsleute ausdrücken, eine Beleidigung erkennt, aber anderen Staatsoberhäuptern gegenüber sehr tolerant sein kann.
Einer von ihnen ist der ukrainische Präsident Selenskyj, den Erdoğan schon öfter getroffen und mit ihm freundschaftlich geplaudert hat. Dabei hat ihn der ehemalige Komiker Selenskyj in einer Bühnenshow im Jahr 2018 als »Kakerlake mit Schnurrbart« bezeichnet. In der Show machte man sich lustig über die lange Amtszeit und die Kritikunfähigkeit Erdoğans und Selenskyj fügte hinzu: »Glaubt ihr etwa, dass sie uns verhaften können? Sie werden uns wohl höchstens mit 300 Peitschenhieben bestrafen.«
Die Menschen, die in der Türkei wegen Beleidigung inhaftiert wurden, oder denen der Prozess gemacht wurde, haben sich über die Zurückhaltung Erdoğans nicht wenig gewundert, als sie Selenskyjs Show voller Beleidigungen im Internet sahen.
Aber es gab auch noch Schlimmeres: Nachdem der deutsche Satiriker Jan Böhmermann 2016 aufgrund seines Schmähgedichts zur Zielscheibe Erdoğans wurde und Angela Merkel der türkischen Anklage nachgab, hat die englische Zeitschrift The Spectator einen »Erdoğan-Schmähgedicht-Wettbewerb« ausgerufen. Und wissen Sie, wer diesen Wettbewerb gewonnen hat? Boris Johnson!
Der damalige Bürgermeister von London hat sich mit einem Fünfzeiler am Wettbewerb beteiligt und als bester Erdoğan-Beleidiger das Preisgeld von 1.000 Pfund erhalten.
Der Autor Douglas Murray erklärte, warum Johnsons Gedicht gewählt wurde, obwohl noch fiesere und beleidigendere Limericks eingereicht wurden, so: »Ich persönlich halte es für eine wunderbare Sache, dass ein führender britischer Politiker gezeigt hat, dass Großbritannien sich nicht vor dem vermeintlichen Kalifen in Ankara verbeugen wird. (...) Erdoğan kann seine Gegner in der Türkei inhaftieren. Bundeskanzlerin Merkel kann Erdoğans Kritiker in Deutschland inhaftieren. Aber in Großbritannien leben und atmen wir immer noch frei. Wir brauchen keinen ausländischen Machthaber, der uns sagt, was wir denken oder sagen dürfen. Und wir brauchen keinen Richter (vor allem keinen deutschen Richter), der uns darüber belehrt, was wir lustig finden dürfen.«
Wie, denken Sie, hat Erdoğan auf das Schmähgedicht von Johnson reagiert? Vier Monate nachdem das Gedicht veröffentlicht wurde, hat er Boris Johnson in seiner Funktion als Britischer Außenminister in der Türkei emfangen und mit ihm lächelnd für Fotos posiert.
Und all das zeigt, dass es dem türkischen Präsidenten mehr darum geht, wer ihn beleidigt, und nicht, wie er beleidigt wird. Wenn die Beleidigenden für ihn wichtig sind, oder mächtiger als er, kann er selbst die fieseste Beleidigung tolerieren.
Ob das zu sagen wohl auch eine Beleidigung ist?