– Sowas… Wenn ich also zufällig in Köln und nicht in Ümraniye geboren wäre, würde ich mich jetzt selbst beneiden können.
– Was soll’s? Man weiß halt nie, was kommt. Ich gehe mal zu den Tafeln und hole mir Brot.
Zeichnung: Serkan Altuniğne
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Manchmal kann eine riesige Propagandamaschine mit einer kleinen Ohrfeige umgehauen werden. So wurde auch die Propaganda der türkischen Regierung, die man mit »Die Deutschen beneiden uns« zusammenfassen könnte, von einer Gymnasiastin vernichtet. Bei einer Fernsehsendung am 23. April, der in der Türkei als »Kindertag« gefeiert wird, wurden junge Menschen nach ihren Zukunftsträumen befragt. Die junge Arife Vildan sagte lächelnd, dass sie an der Uni Köln Medizin studieren wolle und fügte hinzu, »vielleicht kann ich danach deutsche Staatsbürgerin werden«.
Die Moderatorin versuchte vergeblich, ihre Panik hinter einem aufgesetzten Lachen zu verstecken. Da es eine Live-Sendung war, konnte diese Aussage nicht rausgeschnitten werden. Deutsche Staatsbürgerin zu werden wurde als Ideal einer türkischen Jugendlichen registriert.
Arife ist nicht alleine. Laut einer Studie des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD), die die Deutsche Welle veröffentlichte, gab es seit 2017 einen rasanten Anstieg bei den Immatrikulationen von aus der Türkei kommenden Studierenden. Bis 2016 betrug der jährliche Zuwachs 0,3%. Im Jahr 2017 waren es 10%, 2018 knapp 12%. In den Jahren 2020/21, in denen pandemiebedingt die ganze Welt fast zum Stillstand kam, bewegten sich die Zahlen weiter nach oben. Der DAAD gab bekannt, dass die Anzahl der Studierenden aus der Türkei um weitere 5,8% anstieg und der Höchstwert von 10.018 Studierenden erreicht wurde. Wenn man auch noch die Akademiker*innen, die in den letzten fünf Jahren in Scharen nach Deutschland kamen, dazurechnet, wird das Ausmaß des Brain Drain noch klarer.
Letzte Umfragen ergaben, dass 76% der jungen Menschen in der Türkei ins Ausland möchten, um zu studieren oder zu arbeiten. Deutschland ist das Land, das am häufigsten als Wunschziel genannt wird.
Wenn man in Betracht zieht, dass die meisten, die das Land verlassen oder verlassen wollen, Regimegegner sind oder die aktuelle Situation im Land beklagen, kann man erahnen, dass Erdoğan mit dieser Entwicklung zufrieden ist. Für die, die bleiben, hat Erdoğan das Argument erfunden, dass Deutschland die Türkei beneidet. Angeblich habe er in einem Gespräch mit Angela Merkel der Kanzlerin gesagt, dass die Türkei in der Hochschulbildung Deutschland überholt habe. Weiter prahlte er: »Als ich Merkel sagte, dass wir 8,4 Millionen Studierende haben, sagte sie nur ›Uff!‹.« Warum Frau Merkel »Uff!« sagte, wissen wir nicht so genau, wir können jedoch annehmen, dass er, als er von »Universitäten« sprach, nicht jene erwähnte, die quasi über Nacht in Büros über Einkaufszentren eröffnet werden. Wahrscheinlich hat er ihr auch verschwiegen, dass im letzten Jahr nicht eine türkische Universität unter den besten 500 der Welt gelistet war.
Erdoğan hat auch bei jeder Gelegenheit darauf hingewiesen, dass der Bau des Berliner Flughafens Jahre gedauert habe und damit angegeben, dass der Istanbuler Flughafen in nur 42 Monaten fertiggestellt wurde. Natürlich hat er aber auch nie erwähnt, dass in den 42 Monaten 35 Arbeiter auf dem Bau gestorben sind.
Zuletzt konnte man das »Märchen von den Neidern« Ende des letzten Jahres hören. Die regierungstreuen TV-Sender zeigten dem Präsidenten während eines Interviews, das alle gleichzeitig ausstrahlten, eine Dokumentation (!) über den »Niedergang Deutschlands«. In Straßeninterviews konnte man hören, dass die Inflation in Deutschland seinen Höchstwert seit 30 Jahren erreicht hatte, dass dies insbesondere bei den Lebensmitteln spürbar sei, dass die Strom- und Gaspreise ständig anstiegen, dass es zu Lieferengpässen im Bausektor komme, dass die Preise von Baumaterialien um 100% gestiegen seien, dass die Mieten rasant anstiegen, dabei aber Löhne und Gehälter stagnierten und dass die Inflation hauptsächlich die sozial Benachteiligten treffe.
Mit Ausschnitten aus deutschen Nachrichten wurde berichtet, dass die Heizkosten im letzten Jahr um 101%, die Preise für Benzin und Kartoffeln um 35% und für Fleisch um 20% angestiegen seien.
Erdoğan lächelte, während er sich diesen Film ansah und sich die »Fragen« der regierungstreuen Journalist*innen anhörte, die die türkische Wirtschaft lobten.
Es war richtig, dass die Inflation in Deutschland in einem Jahr um 5,2% gestiegen und den Höchstwert der letzten 30 Jahre erreicht hatte und auch, dass die Preise für Energie, Lebensmittel und Mieten anstiegen. Aber es war lächerlich, dass der Präsident eines Landes, dessen jährliche Inflation 36% beträgt, sich darüber lustig machte.
Doch als Ex-Fußballspieler hat Erdoğan den Pass angenommen und benutzt, um den Niedergang seines eigenen Wirtschaftsprogramms zu kaschieren. Er erzählte, dass die Weltwirtschaft im Jahr 2020 aufgrund der Pandemie geschrumpft sei, dass 18 Staaten der G-20 in einem »sehr, sehr schlechten« Zustand seien und nur die Türkei und China wachsen konnte.
Im Nachhinein wurde klar, dass diese »Sogar Deutschland geht es schlecht«-Sendung dem Publikum geboten wurde, um einen Vorwand für die nächsten Preiserhöhungen zu haben. In der Türkei erwachten die Menschen im neuen Jahr mit 25% Erhöhung bei den Gaspreisen und bis zu 127% bei den Strompreisen. Doch weil das Publikum der staatsnahen Sender den Film »Der Niedergang Deutschlands« gesehen hatte, dachten sie, sie hätten es ja noch ganz gut. Wenn selbst die deutsche Wirtschaft stagnierte und selbst die Deutschen finanzielle Probleme hatten, lag das Problem wohl nicht in der Türkei oder bei Erdoğan selbst.
Ein Teil der Bevölkerung glaubt immer noch an diese Lügen und an die Halluzination des Deutschen, der die Türkei beneidet; es sind ca. 25-30% der Wähler*innen… Doch je schlimmer die Wirtschaftskrise wird, desto weniger leben weiter in diesem Glauben.
Die Social Media-Journalistin Nalan Sipar, die in Deutschland lebt, ging vor kurzem mit ihrer Kamera auf die Straße und fragte die Deutschen: »Beneiden Sie die Türkei?« Einer der Befragten dachte lange nach und antwortete schließlich: »Sollte ich jetzt spontan einen Grund nennen, muss ich sagen, wir stehen im kalten Berlin. Das wäre ein Grund.«