CAN DÜNDARS THEATER KOLUMNE #21

CAN DÜNDAR’IN TİYATRO SÜTUNU
Can Dündars Theater Kolumne

– Wir fordern Rechenschaft vom Männerstaat!
– Wir gehorchen nicht!
– Wir sind keine Sklavinnen der Männer oder des Staates!
– Feministischer Aufstand
Zeichnung: Serkan Altuniğne

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#MeToo in der Türkei

Türkische Sprichwörter, die im Türkischen »Ahnenwörter« heißen, klingen wie das Manifest einer patriarchalischen Gesellschaft. 
Die Ahnen haben die Frau entweder als selbstlose Ehefrau und Mutter glorifiziert oder sie als die »Quelle des Bösen«, als »verführerischen Teufel« gesehen. Traditionell wird eine Tochter meistens als Unglück betrachtet: »Hast du eine Tochter, hast du Probleme« ist eine der bekanntesten Redewendungen. »Wer einen Sohn gebärt, kann prahlen, wer eine Tochter gebärt, kann klagen« ist wie das Eingeständnis der Ungleichheit, die mit der Geburt beginnt. »Wer seine Tochter nicht schlägt, schlägt sich auf die Knie« kann als Empfehlungsschreiben für Gewalt gegen Frauen betrachtet werden. Ein Mädchen, das in solch einer Mentalität aufwächst, soll später zunächst eine »ehrenhafte Ehefrau« und danach eine Mutter werden, die sich selbst aufgibt.
Die Ahnen haben die Arbeitsteilung vorgegeben. Die Frau ist »der weibliche Vogel, der das Nest baut«. Sie ist »der Schmutz an der Hand des Mannes«. »Der Mann weiß zu versorgen, die Frau weiß auszukommen«, das heißt, die Frau hat das Einkommen des Mannes im Haus sorgfältig zu verwalten. Laut der Ahnen ist »der Mann an der Arbeit, die Frau am Kochen zu messen«. Was aber, wenn die Frau arbeiten will? Die Ahnen empfehlen dies nicht. Denn die Frau hat »lange Haare, aber einen kurzen Verstand«. Und: »Aus einem Brunnen, den eine Frau gräbt, kommt kein Wasser«. Sie kann »dem Mann Schande bringen, ihn aber auch zum Wesir machen« – man weiß nie.

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Diese herabwürdigende Sprache, diese abwertende Betrachtung wurde auch von Politikern, die, sich auf religiöse Politik und konservative Traditionen stützend, aufstiegen, aufgegriffen und angestachelt. Auch sie haben, wenn sie die an das Geschlecht gebundene Rollenmodelle beschrieben, der Frau die Rolle der gehorsamen Hausfrau und aufopfernden Mutter zugeschrieben. Obwohl die Hälfte seiner Wähler*innen Frauen sind, scheute sich Präsident Erdoğan nicht zu sagen, dass er nicht an die Gleichheit von Mann und Frau glaube. Sein engster Berater verurteilte Frauen, die in der Öffentlichkeit lachen, als er sagte, diese seien unehrenhaft.
Der Chef der Religionsbehörde, der die steigende Zahl der Scheidungen auf berufstätige Frauen zurückführt, ist der Meinung, dass keine berufliche Karriere wichtiger sei, als Mutter zu werden. In einem Land, in dem die Zahl der Femizide in sieben Jahren um 1.400% gestiegen ist, behauptete Erdoğan, dass das Thema Gewalt an Frauen aufgebauscht werde.

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Dennoch konnte diese abwertende Sprache die Frauen nicht aufhalten. Im Gegenteil, sie hat die Frauenbewegung noch bestärkt.
Sie haben eine starke Barrikade errichtet gegen diesen patriarchalischen Diskurs, der von den Ahnen an den Präsidenten weitergereicht worden ist, gegen die Macho-Kultur, die von Kasernen zu Moscheen reicht, gegen die Diskriminierung, die sich von Schulen über die Arbeitsplätze verbreitet. Trotz sexualisierter Belästigung, Vergewaltigungen und des repressiven, bigotten Regimes der Regierung. In einer Zeit, in der es Gewerkschaften, Vereinen und Parteien verboten ist, Demonstrationen zu organisieren, sind sie mit Hartnäckigkeit, Beharrlichkeit und Entschlossenheit auf die Straßen gegangen, um ihre Rechte zu verteidigen. Schulter an Schulter sind sie marschiert für ihre Rechte, ihr Recht anzuziehen, was sie möchten, das Recht sich zu organisieren, das Recht auf Selbstbestimmung.
Natürlich hat der feudale Mann keinen Gedanken daran verschwendet, seinen jahrhundertealten Thron aufzugeben. Er hat auf diesen Widerstand, auf den er nicht vorbereitet war, mit den Mitteln des Staates und mit brutaler Gewalt geantwortet. Die Frau, die zuhause bei jedem Einwand mit Schlägen konfrontiert wurde, ist auf Polizisten gestoßen, die ihrem Mann Recht gaben und Richtern, die sich bei der Urteilsfindung von Sprichwörtern inspirieren ließen.
Je stärker der Widerstand der Frauen wurde, umso rigoroser wurde die männliche Gewalt, je rigoroser die männliche Gewalt wurde, umso mehr wuchsen die Friedhöfe für Frauen. 
Sexualisierte Belästigung, Vergewaltigung und Gewalt gegen Frauen gibt es nicht nur in feudal strukturierten Familien, sondern sie wird auch immer mehr zu einer Krankheit in den modernen Betrieben der Metropolen. Während die Frauen allerdings den Mut aufbrachten, gemeinsam für ihre Rechte zu kämpfen, fiel es ihnen schwer, den Missbrauch öffentlich zu machen. Denn sie leben in einem Land, in dem das Sprichwort »Solange die Hündin nicht mit dem Schwanz wedelt, folgt der Hund ihr nicht« Beachtung findet. Der gesellschaftliche Druck und die in der Rechtsprechung ausgeübte Straflosigkeit ließen sie verstummen.

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Doch dieses Verstummen endete Anfang Dezember letzten Jahres. Alles begann mit einem Tweet vom Account Leyla Salinger. Unter einem Video des bekannten Schriftstellers Hasan Ali Toptaş schrieb die Inhaberin des Accounts: »Wie viele von uns warten ungeduldig darauf, dass dieser Mann entlarvt wird? Ich und viele meiner Freundinnen haben unschöne Erinnerungen an ihn. Wenn ich das Bewusstsein und den Mut von heute gehabt hätte, hätte ich ihn entlarvt. Er ist eine große Enttäuschung...« Gleich danach schrieb die Literatin, Pelin Buzluk: »Auch ich habe eine schreckliche Erinnerung an ihn. Damals war ich verheiratet, aber ich konnte es nicht einmal meinem Mann sagen. Leyla, du bist nicht allein.«
Von diesem Moment an begannen die Frauen zu reden, wie ein Vulkan, der nach Jahren ausbrach. In einer öffentlichen Erklärung sagte Toptaş: »Bis man erkennt, welche großen Wunden männliche Täterschaft der Gegenseite zufügt, kann man große Fehler begehen«, und entschuldigte sich bei den Menschen, die er »verletzt« habe. Doch er stellte sich gegen das Prinzip, dass »die Aussage der Frau wesentlich« ist*. 
Diese Erklärung hat alte Wunden erst recht aufgerissen. Während es immer mehr Gegenreaktionen gab, haben 57 Frauenorganisationen ihre Solidarität bekundet. Der Verleger von Toptaş hat ihn rausgeworfen. Preise, die er erhalten hatte, wurden zurückgenommen. Seine Fernsehprogramme wurden eingestellt.
Das gab vielen den Mut, ihre Missbrauchserfahrungen öffentlich zu machen. Innerhalb von zwei Tagen sprang eine #MeToo-ähnliche Bewegung von der Literaturwelt über auf Medien, Kunst und Akademie. Die seit Jahrzehnten ausstehenden Prozesse wurden den Tätern auf sozialen Medien gemacht.

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Doch die Bewegung endete am dritten Tag. Grund dafür war der Missbrauchsvorwurf an den Schriftsteller İbrahim Çolak aus Ankara. Pornografische Nachrichten, die er an eine viel jüngere Frau geschickt hatte, wurden in den sozialen Netzwerken geteilt. Der verheiratete und religiöse Schriftsteller twitterte am 10. Dezember: »Auf so ein Ende hatte ich mich nicht vorbereitet. Ich wollte ein guter Mensch sein, das habe ich nicht geschafft. Ich könnte stunden- und tagelang schreiben, aber das wird nichts zurückbringen. Jetzt kann ich meiner Frau, meinen Kindern, meinen Freunden nicht mehr in die Augen sehen. Niemand ist in Allem schuldig. Ich bedaure nur sehr, dass ich mich an das Prinzip ›Lasst uns so handeln, wie es für uns angemessen ist‹, das ich anderen immer vorbetete, selbst nicht halten konnte. Ich sage meinen Freunden, insbesondere meiner Frau und meinen Kindern: Lebt wohl.«
Das war ein Abschied. Der 51-jährige Çolak hat sich an jenem Abend in seiner Wohnung an einem Gasrohr erhängt. Daraufhin begann der Gegenschlag der Männer. Die Diskussion drehte sich nicht mehr um das Aufbegehren der Frauen gegen sexualisierte Belästigung, sondern darum, dass haltlose Behauptungen Leben kosteten und Twitter eine Plattform für außergerichtliche Vollstreckungen geworden sei. Der #MeToo-Sturm der Türkei legte sich am dritten Tag mit diesem Suizid.

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Aber egal, was kommen wird, es ist nun schwer, dieses Aufbegehren zu unterdrücken. Denn die Femizide wiegen schwerer als alle angeblich falschen Vorwürfe gegen Männer: Offizielle Zahlen belegen, dass im letzten Jahr 234 Frauen ermordet worden sind. Dass alleine in der letzten Woche des Jahres 2020 vier Frauen von Männern ermordet worden sind, hat die Frauen wieder auf die Barrikaden gebracht. 
Der Mangel an Frauenhäusern und Krisenzentren, aber viel wichtiger noch, dass die Regierung das in Istanbul unterzeichnete Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt nicht umsetzt, weil es sich in Angelegenheiten der Familien einmische, führt dazu, dass diesen Morden kein Einhalt geboten wird. 
Die Frauenbewegung in der Türkei diskutiert darüber, dass herabwürdigende und stigmatisierende Sprache, Regeln und alltägliche Praktiken, die in Sprichwörtern, Gesetzen, Politik und TV-Programmen vorherrschen, verändert werden müssen. Sie führen mit Hartnäckigkeit, Beständigkeit und Widerstandsfähigkeit eine groß angelegte Kampagne, damit die Istanbul-Konvention, die die stärkste rechtliche Stütze gegen Gewalt an Frauen ist, auch Anwendung findet. Die Frauen skandieren auf den Straßen »Lass den Vater, lass den Ehemann, lass den Staat, lass den Schlagstock nur kommen / trotzdem Aufstand, trotzdem Freiheit«. 
Die Redewendung »Hast du eine Tochter, hast du Probleme« klingelt in diesen Tagen wohl am stärksten in den Ohren des patriarchalen Staates.


*»Die Aussage der Frau ist wesentlich« ist in der türkischen Justiz der Grundsatz, der als Basis für die Einleitung der Untersuchung und der Annahme der Aussage als Beweismittel bei sexualisierter Gewalt gilt.