Das Gewissen der Wörter

Von Susan Sontag

Was meinen wir bspw. mit dem Wort »Frieden«? Meinen wir die Abwesenheit von Streit? Meinen wir Vergessen? Oder
Vergebung? Oder eine große Ermattung, eine Erschöpfung, ein Nachlassen der Erbitterung? Mir scheint, für die meisten Menschen bedeutet »Frieden« Sieg. Der Sieg ihrer Seite. Das meinen sie mit »Frieden«, während Frieden für die anderen Niederlage bedeutet. Wenn sich die Vorstellung durchsetzt, dass Frieden im Prinzip zwar wünschenswert ist, zugleich aber einen unannehmbaren Verzicht auf legitime Ansprüche einschließt, dann wird dies wahrscheinlich auf einen Krieg mit beschränkten Mitteln hinauslaufen. Aufrufe zum Frieden wirken in einer solchen Situation wenn nicht wie Betrug, so doch voreilig. Der Frieden wird zu einem Raum, in dem die Menschen nicht mehr wissen, wie sie ihn bewohnen könnten. Der Frieden muss dann neu besiedelt, neu erschlossen werden.
 


Auszug aus Susan Sontags Das Gewissen der Wörter. Rede bei der Entgegennahme des Jerusalem-Preises (erschienen in: Zur gleichen Zeit. Aufsätze und Reden, S. 189)


After Party / After Life

Festival: WAR OR PEACE – CROSSROADS OF HISTORY 1918 / 2018